Deutschland – bahnpolitisch ein Entwicklungsland

Deutsche Verkehrspolitik im Vergleich zu seinen Nachbarn Österreich, Schweiz und Luxemburg. Ein Beitrag von Dirk Flege.

Deutschland ist bahnpolitisch ein Entwicklungsland.

Wie steht es um das Schienennetz in Deutschland? Eine Frage, die angesichts verspäteter Züge und zahlreicher, baustellenbedingter Streckensperrungen Millionen Menschen in Deutschland beschäftigt. Der Bahnbau-Kongress des VDEI liefert traditionell Antworten: Bahn-Chefs aus drei Nachbarstaaten diskutierten mit Infrastruktur-Verantwortlichen der Deutschen Bahn über die Schieneninfrastruktur in ihren jeweiligen Ländern – eine einmalige Chance, über den nationalen Tellerrand zu blicken. Vor dem Hintergrund der Debatte um die InfraGO AG hatte der Kongress diesmal eine besondere Relevanz. Was kann Deutschland mit Blick auf die neue InfraGO von den Nachbarstaaten lernen? Wie kann der Staat die Schieneninfrastruktur gemeinwohlorientiert steuern? Ein Beitrag von Dirk Flege.

Bei der DB InfraGO AG hilft ein Blick ins Ausland

Erst vor wenigen Tagen feierte die Politik und Bahnprominenz den offiziellen Auftakt der InfraGO AG in Berlin. Wie aber soll die InfraGO bahnpolitisch mit Leben gefüllt werden? Helfen kann ein Blick ins Ausland. Beim „4. Bahnbau-Kongress“ des Verbandes Deutscher Eisenbahningenieure (VDEI) in Darmstadt haben im November 2023 die Netz-Chefs der Staatsbahnen aus Deutschland, der Schweiz, Österreichs und Luxemburgs mit dem Autor über Erfolgsrezepte für die Steuerung und Entwicklung von Schienennetzen diskutiert.

Erfolgsrezept 1: Es braucht eine verkehrspolitische Strategie des Staates

In der Schweiz hat die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene Verfassungsrang. Seit dem „Ja“ der Schweizer zum Volksentscheid „Alpeninitiative“ von 1994 ist der Auftrag in der Bundesverfassung verankert, den Transit-Güterverkehr durch die Alpen von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Das Güterverkehrsverlagerungsgesetz verlangt, dass die Zahl der Fahrten in- und ausländischer Lastwagen und Sattelschlepper durch die Schweizer Alpen von 1,4 Millionen im Jahr 2000 auf 650’000 Fahrten pro Jahr gesenkt werden soll. Mögliche neue Instrumente wie die Alpentransitbörse werden in dem Gesetz gleich mitgenannt.

In der Schweiz hat die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene Verfassungsrang.

Die verkehrs- und bahnpolitischen Strategie-Ansätze der Schweiz reichen bis ins Jahr 2050. Konsentiert ist bereits die „Perspektive BAHN 2050“. Ausgehend von einer Vision und sechs Zielsetzungen definiert sie die Stoßrichtung für den weiteren Ausbau der Eisenbahn in der Schweiz, mit der die Marktanteile der Bahnen im Personen- und Güterverkehr gesteigert werden sollen.

In Österreich gibt es den Mobilitätsmasterplan 2030 des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK). Er zeigt Wege auf, um Verkehr klimaneutral zu machen. Das bedeutet Verkehr zu vermeiden, zu verlagern und zu verbessern sowie den Anteil des Umweltverbunds aus Fuß- und Radverkehr, öffentlichen Verkehrsmitteln und geteilter Mobilität deutlich zu steigern. Aufbauend auf diesem Mobilitätsmasterplan 2030 wird gerade ein Zielnetz 2040 erarbeitet, das die Schieneninfrastruktur in die Lage versetzen soll, im Vergleich zu 2018 ein Wachstum der Verkehrsleistung im Schienengüterverkehr von 60 Prozent und im Personenverkehr von 70 Prozent zu ermöglichen. Die Nachfrage des Zielnetzes wird so modelliert, dass die Ziele des Mobilitätsmasterplans erreicht werden können und das Schienennetz den Wachstumsprognosen im Sektor Eisenbahn gerecht werden kann.

In Luxemburg gibt es den Nationalen Mobilitätsplan 2035, an dem auch die neue Regierung aus Christsozialer Volkspartei (CSV) und Demokratischer Partei (DP) festhalten will. Genau wie in Österreich wird aus dem Mobilitätsplan für sämtliche Verkehrsträger ein Zielnetz abgeleitet.

In Deutschland gibt es dagegen keine verkehrspolitische Strategie. Es existiert kein Verkehrsträger übergreifender Mobilitäts- oder Masterplan. Es gibt nur den Bundesverkehrswegeplan, der aber lediglich ein unverbindlicher Bedarfsplan für Infrastrukturprojekte unterschiedlicher Verkehrsträger ohne Kopplung an Nachhaltigkeitsziele oder gesicherte Finanzierung ist. Auch eine bahnpolitische Strategie gibt es in Deutschland bestenfalls in Ansätzen. Der Masterplan Schienenverkehr hat kein Zieljahr, der Deutschlandtakt ebenfalls nicht. Immerhin hat die Steigerung des Marktanteils im Schienengüterverkehr und die Verdoppelung der Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr Eingang in die aktuelle Koalitionsvereinbarung gefunden.

Staatliche Steuerung und Finanzierung der Schieneninfrastruktur in verschiedenen EU-Laendern

Erfolgsrezept 2: Es braucht eine gesicherte Staatsfinanzierung für Neu- und Ausbau

In der Schweiz sind Ausbauprojekte des Schienennetzes bis 2035 („Ausbauschritt 2035“) verbindlich finanziert. Das Geld kommt aus einem Bahninfrastrukturfonds, der vom Bund und den 26 Kantonen mit allgemeinen Mitteln gespeist wird und darüber hinaus Einnahmen aus der Lkw-Maut sowie dem Mineralöl- und Mehrwertsteueraufkommen erhält. Von jährlichen Budgetdiskussionen ist der Bahninfrastrukturfonds ausgenommen, da die Finanzierung gesetzlich festgelegt ist.

In Österreich sind Ausbauprojekte jeweils sechs Jahre im Voraus finanziert. Der vom Ministerrat beschlossene Rahmenplan ist samt dem dazugehörigen Vorbelastungsgesetz verbindlicher Teil des Geschäftsplans und Teil des Zuschussvertrages zwischen Bund und ÖBB und bietet allen Beteiligten Planungs- und Finanzierungssicherheit. Durch die jährlich rollierende Erstellung hat das Finanzierungsinstrument ein hohes Maß an Stabilität, bietet aber auch Flexibilität für Neuaufnahmen.

In Luxemburg gibt es genau wie in Österreich ein rollierendes Finanzierungsregime für den Ausbau des Schienennetzes. Die Genehmigung der Investitionen erfolgt jährlich auf der Basis eines gleitenden 10-Jahresplans, der nach Aussage des Infrastrukturdirektors der CFL, Henri Werdel, allerdings finanziell keine absolute Sicherheit bietet. Echte Finanzierungssicherheit gibt es lediglich für das kommende Jahr durch das jährlich von der Abgeordnetenkammer zu verabschiedende Haushaltsgesetz. Die Finanzierung der Eisenbahninfrastruktur erfolgt sowohl für die laufenden Kosten als auch für die Investitionen aus dem staatlichen Eisenbahnfonds.

Was die Finanzierungssicherheit für neue Schienentrassen anbelangt, erinnert die Rolle Deutschlands an die Punkte-Vergabe beim Eurovision Song Contest: Schweiz 12, Österreich 6, Deutschland 1.

In Deutschland gibt es keinen staatlichen Eisenbahnfonds und auch keine mehrjährige Finanzierungssicherheit für Neu- und Ausbauprojekte des Bundesschienennetzes. Der Bundestag beschließt die Finanzmittel lediglich für das kommende Haushaltsjahr. Gibt es – wie Ende 2023 – eine vorläufige Haushaltsführung, sind die Finanzmittel nicht einmal für das gesamte Haushaltsjahr gesichert. Was die Finanzierungssicherheit für neue Schienentrassen anbelangt, erinnert die Rolle Deutschlands an die Punkte-Vergabe beim Eurovision Song Contest: Schweiz 12, Österreich 6, Deutschland 1.

Erfolgsrezept 3: Es braucht auf keinen Fall Gewinne aus dem staatlichen Schienennetz

In der Schweiz, in Österreich und in Luxemburg gibt es keine Gewinnerwartung des Staates an das staatliche Schienennetz. Das haben die Repräsentanten der drei Staatsbahnen unisono beim Bahnbau-Kongress in Darmstadt bestätigt. Der Eigentümer erwarte lediglich, dass man „keine Verluste“ mache.

In Deutschland erwartet der Bund – anders als bei der Autobahn GmbH – von seinen Eisenbahn-Infrastrukturgesellschaften dagegen sehr wohl Gewinne. Wie viel genau, blieb in all den Jahren seit der Bahnreform 1994 bis zur Gründung der DB InfraGO AG Staatsgeheimnis. Über viele Jahre lautete der Anspruch „marktübliche Rendite“ – und das bei einem natürlichen Monopol, das nun endlich auch in Deutschland dem Gemeinwohl dienen soll.

InfraGO als unfertiger Mischmasch aus Gemeinwohl- und Wirtschaftlichkeitszielen

Bahnpolitisch, das zeigt der Blick in Nachbarländer, ist Deutschland ein Entwicklungsland – bei den Pro-Kopf-Investitionen, in Sachen verkehrspolitischer Strategie, bei der überjährigen Finanzierungssicherheit für den Ausbau des Schienennetzes und bei den völlig aus der Zeit gefallenen Gewinnansprüchen an die Schieneninfrastruktur. Die Satzung der neuen DB InfraGO AG mit ihrem Versuch der Gemeinwohldefinition ändert daran nichts. Sie löst das Spannungsverhältnis zwischen Gemeinwohlzielen und Wirtschaftlichkeitszielen nicht auf – was nicht verwundert bei fehlender verkehrspolitischer Strategie des Eigentümers und dem Fehlen einer mehrjährigen Finanzierungssicherheit.

Damit in Deutschland das Reformprojekt InfraGO noch gelingt, braucht es jetzt sehr schnell Klarheit, was die Ziele des Bundes für die neue InfraGO sind und wie der Bund im Sinne dieser Ziele steuern will. Und wir brauchen in Deutschland endlich eine langjährige Finanzierungssicherheit auch für Neu- und Ausbauprojekte. Dafür bietet sich nach österreichischem Vorbild ein „Infraplan“ an, über den Bund und DB AG bereits diskutieren. Anders als der Bundesverkehrswegeplan, der ein unverbindlicher Bedarfsplan ist, muss der Infraplan ein verbindlicher Umsetzungsplan werden – finanziell gespeist aus einem Ausbau- und Modernisierungsfonds für die Schieneninfrastruktur, so wie es die Beschleunigungskommission Schiene vorgeschlagen hat.

Dieser Beitrag erschien in leicht geänderter Fassung zuerst in der Februarausgabe des VDEI-Magazins „DER EISENBAHNINGENIEUR“.