Silber: Nico Hilsberg

Eisenbahner mit Herz – Silbermedaille

Im falschen Zug

27. Oktober 2010, etwa 01.30 Uhr, München Hauptbahnhof, Gleis 18: Eine junge Tierärztin steigt nach der Nachtschicht in einen abgestellten Zug am Münchner Hauptbahnhof, um die Zeit zur Abfahrt des ersten ICE zu überbrücken.

Der Zug fährt unvermittelt los. Mit Hilfe des Lokführers Nico Hilsberg kommt sie nach einer Odyssee vom Güterbahnhof Pasing zum Hauptbahnhof München zurück und erwischt ihren ICE ins heimatliche Augsburg.

„Es hebt ab von der Masse“

Nico Hilsberg über blinde Passagiere, den Mythos vom einsamen Lokführer und Züge, die sich selbst überholen.

Herr Hilsberg, Sie sind „Eisenbahner mit Herz“ geworden, weil Sie sich in einer Nacht im Oktober 2010 tapfer für einen blinden Passagier eingesetzt haben. Erinnern Sie sich daran?
Natürlich. Ich war mit dem Zug von München Hauptbahnhof unterwegs zu einer Unterflurdrehbank und hatte dabei eine Frau an Bord. Wie soll ich das beschreiben? Sie war halt in dem Zug und hat mich gefragt, wie sie wieder nach Hause kommt. Und weil das wirklich relativ weit in der Pampa von Pasing war, habe ich ihr geholfen. Zuerst habe ich es gar nicht klar gesehen. Ich hielt mit dem Zug draußen auf freier Strecke, alles war dunkel und auf einmal klopfte es hinter mir. „Hast du dich da jetzt geirrt?“, dachte ich. Aber da klopfte es wieder. Ich habe dann richtig hingeschaut und den Umriss von der Frau gesehen. Bei Licht war es dann klar: Ein blinder Passagier. Sie sagte, sie hätte nur mal schnell auf die Toilette gemusst, als der Zug losfuhr. Da draußen fährt nachts wirklich gar nichts mehr, also dachte ich nach, was wir jetzt machen könnten.

Ich rief den Stellwerker an und der sagte, es würde sich gleich ein Kollege vom Nahverkehr melden, der wieder in den Hauptbahnhof zurückführe. Ich bat ihn, dafür zu sorgen, dass der auf jeden Fall wartet. Wir sind dann zu Fuß über die Gleise gelaufen. Das war ganz weit weg, ein Bereich vom Bahnhof, in dem ich noch nie gewesen bin. Wir kamen schließlich zu einer Bude, wo der Wagenmeister drin saß. Der erklärte mir, wo der Zug steht. Wir fanden den Zug und ich habe die Frau dem Kollegen übergeben, der sie wieder zurück nach München Hauptbahnhof gebracht hat.

Hatten Sie das Gefühl, heldenhaft gehandelt zu haben?
Pflichtbewusst, würde ich sagen. Heldenhaft ist vielleicht etwas anderes.

War das Ihr erster blinder Passagier?
Nein, so was kommt schon mal vor. Aber so weit wie diese Frau ist noch keiner mitgefahren. Die meisten fahren bis Laim, und da ist dann die S-Bahnstation. Viele reagieren auch panisch, ziehen die Notbremse. Das hat meine blinde Passagierin ja alles nicht gemacht. Aus Rücksicht hat sie auch nicht während der Fahrt geklopft. Da wäre ich wahrscheinlich vor Schreck vorne durch die Scheibe gegangen. Damit rechnet ja keiner.

Die Kundin schreibt, sie hatte Angst, dass Sie ihr den Kopf abreißen.
Kopf abreißen? Nein, so ein Typ bin ich nicht. Und sie ist zum Glück auch sehr besonnen geblieben. Ich habe ihr gesagt, das könne schließlich jedem Mal passieren.

Was ist das schönste Erlebnis, das Sie jemals als Lokführer hatten?
Arlbergumleiter mit 234.

Wie bitte? Das müssen Sie erklären.
Das ist eine Baureihe der Ex-Deutschen Reichsbahn, die beim Umbau des Arlbergtunnels eingesetzt worden ist. Durch die Umleitungen kamen einige Eurocitys und Nachtzüge über Lindau. Mit der B 234 ging die Fahrt dann von Kempten über Lindau nach München. Das war ein Novum für bayerische Gleise, dass eine russische Maschine drauf fährt, und da ich schon immer Fan der „Ludmilla“ Familie (BR230-BR234) war, hab ich einen Kollegen beschwatzt, mich fahren zu lassen.

Was halten Sie vom Mythos des einsamen Lokführers, der stundenlang schweigend in die Nacht starrt?
Wir Lokführer im Ortsdienst sind nicht ganz so einsam. Nach einer Drehfahrt sind wir nach einer Stunde wieder unter Menschen. Aber generell stimmt es schon, dass bei Lokführern der Einzelkämpfertyp gefragt ist.

Wenn Sie auf einer Party sind und gefragt werden, was Sie arbeiten, was sagen Sie dann?
„Lokverführer.“ (lacht) Der offizielle Begriff heißt „Triebfahrzeugführer“. Unter Eisenbahnern „Lokführer“. Für die Presse „Zugführer“. Unter Kollegen beim Ablösen sagen wir bloß „Führer“. Das klingt dann so: „Führer, kann’s losgehen?“

Und das Image Ihres Berufes? Wie sehen Sie das?
Im Prinzip ganz gut. Seitdem die GdL streikt, ist es allerdings schlechter geworden. Sonst hängt viel davon ab, ob ein Reisender vorher schon schlechte Erfahrungen gemacht hat oder nicht.

Was wollten Sie werden, als Sie klein waren?
Polizist. Aber das war nur in der Kindergartenphase. Danach war es schon bald Eisenbahner und Lokführer. Es liegt bei uns auch in der Familie, hat allerdings eine Generation übersprungen. Mein Urgroßvater war bei der Eisenbahn, mein Großvater war bei der Eisenbahn. Jetzt hat der Virus mich wieder erwischt. Ich erinnere mich noch, als mich mein Großvater mit auf die Dampflok genommen hat. „Hier nicht im Weg rumstehen, hier ist gefährlich. Hier Finger weg, hier ist heiß.“ Ich stand ganz still in der Ecke und fürchtete mich. Aber nachher war das Gefühl großartig. Wie vor zwei Jahren, als ich in den USA war. Was da für Maschinen fahren: Vom Motorengeräusch vibriert der Boden, und die Züge sind so lang, dass sie sich selbst überholen. Das ist schon hart: Da kommt man zurück nach Deutschland und hier fährt nur Spielzeug.

Einen Trost gibt es: Sie sind Eisenbahner mit Herz geworden. Wie war das für Sie?
Das musste erst mal durchdringen. Das ist eine völlig neue Situation für mich. Aber jetzt denke ich: Es hebt ab von der Masse. Man kann sich damit brüsten.

Das Porträt

Der Einzelkämpfertyp

Der Lokführer Kollege im Münchner Hauptbahnhof kann es kaum glauben: „Was? Du bist Eisenbahner mit Herz? Du?“ Nico Hilsberg macht nicht viele Worte. Er lächelt hintersinnig und nickt bescheiden.

Dabei ist es wirklich ein Wunder: Der 36-jährige ist Bereitstellungslokführer. In fünf Schichten pro Woche – meistens nachts – fährt Hilsberg riesige leere dunkle ICE in die Waschanlage oder ins Werk zur Radsatzprüfung. „Den Zug aufarbeiten“, nennt er das. Mit Bahnkunden kommt er dabei selten in Berührung. In einer Nacht im Oktober 2010 war es allerdings anders. Eine junge Frau fuhr als blinder Passagier mit Nico Hilsberg vom Hauptbahnhof bis nach München Pasing. Aus dieser „Pampa“ aus Gleisen und Weichen befreite Hilsberg die Kundin, die sich über ihr Missgeschick so geschämt hatte, dass sie fast im Boden versinken wollte. „Das kann doch jedem Mal passieren“, sagt Hilsberg und gibt trotzdem zu, dass er am liebsten allein in seinem Führerhäuschen sitzt.

Nach einem Start als Prüfdienst bei der Münchner S-Bahn kam Hilsberg 2002 zum Fernverkehr der deutschen Bahn. Für den geborenen Dresdner ist das ein Aufstieg. Sein nächstes Karriereziel: Das Stellwerk. Dahin kommt dann garantiert kein Kunde mehr. „Blinde Passagiere gibt es da definitiv nicht“, sagt Hilsberg und man muss sehr scharf hinhören, um ein Bedauern zu erahnen. „Der Lokführer, das ist nun mal mehr der Einzelkämpfertyp“, sagt Hilsberg. Dass einer es damit dennoch zum Eisenbahner mit Herz bringt, findet Hilsberg „cool“.

Die Einsendung der Kundin

Der Zug ist abgefahren

„Und du willst jetzt wirklich zwei Stunden am Hauptbahnhof rumsitzen?“, fragte mich meine Arbeitskollegin zweifelnd. Ich zuckte die Achseln. „Ich hab ja mein Notebook dabei – ob ich hier oder dort warte, spielt auch keine Rolle.“

Ich gab nur ungern zu, wenn mich das Pendeln doch einmal nervte. Immerhin hatte ich mir diesen Wahnsinn selbst aufgebürdet – wohnen in Augsburg, arbeiten in Oberhaching; zweimal täglich anderthalb (wenn es optimal lief und man zum Anschluss rannte) bis zweieinhalb Stunden (abends, wenn die Regionalzüge nur noch stündlich fahren und man den Anschluss gerade verpasste) in der Bahn sitzen. Aber was tat man nicht alles, wenn der Freund nun mal in Augsburg lebte – und man keinen anderen Arbeitsplatz wollte.

Mit gemischten Gefühlen verließ ich die Klinik und machte mich auf den Weg durch die Dunkelheit. Etwa fünfzehn Minuten dauert der Fußweg zur S-Bahn – zum Glück fuhr sie um null Uhr dreißig überhaupt noch. Nur der Augsburg-München-Verkehr lag um diese Zeit nun einmal still, erst um 03:17 Uhr sollte der nächste Zug – immerhin ein ICE – fahren.
Ich tröstete mich damit, dass es eine Ausnahme war, so spät aus der Arbeit zu kommen. Auf dem Weg pflückte ich noch die übliche Tüte voll Gras für meine Kaninchen, die vermutlich schon sehnsüchtig wartend an meiner Balkontür stehen würden, wenn ich endlich heim kam. Manche Dinge müssen eben sein – egal, wie spät es ist.

Die S-Bahnfahrt zum Münchener Hauptbahnhof verlief schnell und ereignislos. Seufzend machte ich mich auf den Weg zu den Fernzügen und hoffte inständig, dass mein Zug schon bereitstand; immerhin war es Oktober und ich hatte keine Lust, mich zwei Stunden lang auf einem unbeheizten Bahnsteig aufzuhalten.

Zu meiner Freude entdeckte ich meinen ICE bereits von weitem. Die Euphorie schwand jedoch, als ich diverse Personen auf den Metallsitzen des Bahnsteiges entdeckte, die offensichtlich warteten. Meine ungute Vorahnung bestätigt sich: Die Türen waren noch verschlossen.

Ich zuckte die Achseln und blickte mich um. Wenn die Abfahrtszeit eines bereitstehenden Zuges noch in weiter Ferne lag, setzte ich mich manchmal einfach hinein, bis mein eigener einfuhr bzw. die Türen entriegelte. Der Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis sah vielversprechend beleuchtet aus. Ich warf einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel und stellte fest, dass keine Abfahrtszeit dort stand; also würde sich das vermutlich noch lange hinziehen.

Kurzerhand lief ich zur nächsten Tür, die sich zu meiner Freude tatsächlich öffnen ließ, stieg ein und setzte mich – schließlich durfte ich das ja sonst nie – auf einen Ledersitz in der Ersten Klasse. Wenige Minuten später war ich bereits eifrig dabei, auf meinem Laptop einen neuen Artikel für meine Homepage zu tippen.

Die Stille wurde durch schrille Pfeiftöne durchbrochen – das Warnsignal an den Türen, kurz bevor sie sich automatisch schlossen. Einen Augenblick lang saß ich da wie versteinert; dann sprang ich auf und lief zu der Tür, durch die ich eingestiegen war. Tatsächlich: Sie ließ sich nicht mehr öffnen! Mit einer Mischung aus Irritation und Unbehagen blickte ich hinaus auf den Bahnsteig und fragte mich, wann man den Zug wohl wieder öffnen würde – als etwas geschah, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte: Das Licht ging aus! Ach du lieber Gott, dachte ich. Man hatte den Zug geschlossen und den Strom abgedreht – das konnte nur heißen, dass er jetzt eine halbe Ewigkeit hier herumstehen würde; jedenfalls mit Sicherheit länger als zwei Stunden. Ob ich mich einfach auf eine Sitzreihe legen und schlafen sollte? Würde ich Hilfe rufen, bekäme ich sicher gehörigen Ärger, überlegte ich. Vielleicht konnte ich ja den Lokführer noch erwischen. Kurzerhand machte ich mich auf den Weg durch den stockfinsteren Zug in Richtung Führerhäuschen ganz am anderen Ende.

Und dann passierte es: Der Zug fuhr los. Ich erstarrte, versuchte zu begreifen, was gerade geschah. Wieso um alles in der Welt fuhr dieser vermeintlich leere, unbeleuchtete Zug los? Und vor allem: Wo zur Hölle fuhr er hin? Mechanisch blickte ich aus dem Fenster, sah den Hauptbahnhof an mir vorbeiziehen und blickte dann ins kohlrabenschwarze Nichts. Mein Gott, dachte ich, wieso bin ich nur eingestiegen? Was hab ich mir damit eingebrockt?

In einem plötzlichen Entschluss löste ich mich aus meiner Trance und stolperte los in Richtung Zugspitze. Ich musste den Fahrer auf mich aufmerksam machen! Wenn er jetzt anhielt, käme ich mit der S-Bahn noch schnell zurück. Als ich den letzten Waggon erreicht hatte und durch die Scheibe die Umrisse des Zugführers entdeckte, zögerte ich jedoch. Sollte ich das wirklich tun – jetzt anklopfen? Der Mann bekäme vermutlich einen Herzinfarkt, wenn plötzlich jemand hinter ihm auftaucht, überlegte ich – hier in diesem verdammten Zug, wo keine Menschenseele außer ihm mehr sein sollte! Ich starrte einige Sekunden auf den Hinterkopf der ahnungslosen Person im Führerhäuschen, dann schlich ich mich zurück – mindestens fünf Waggons in der lächerlichen Befürchtung, man könnte mich in der nächsten Kurve in irgendeinem Rückspiegel entdecken. Immer wieder warf ich nervöse Blicke aus dem Fenster – doch ich konnte nicht im Geringsten ausmachen, wohin der Zug fuhr. Verdammter Mist, dachte ich – mit jeder Sekunde entfernte ich mich weiter von dort, wo um 03:17 mein ICE abfahren würde; und mir fiel beim besten Willen nichts ein, was ich dagegen tun könnte! Was hatte ich für Optionen – den Zugführer zu Tode erschrecken? Hilfe rufen?

Das wäre eigentlich keine schlechte Idee, dachte ich; den Bahncomfort-Service anrufen, ihnen meine Lage schildern – und sie telefonischen Kontakt mit dem Zugführer aufnehmen lassen. Schonender könnte man ihm die Sache nicht beibringen. Das Problem war nur, dass ich um halb zwei Uhr nachts keinen Menschen beim Bahncomfort oder sonst wo erreichen würde; außer bei der Polizei oder Feuerwehr vielleicht… aber das kam mir nun doch albern vor.

Der Zug verlangsamte sich, und ich blickte gespannt aus dem Fenster. Dort war ein Bahnhof – aber ich konnte nirgends eine Ausschilderung entdecken, keinerlei Anhaltspunkt darüber, wo wir waren. Der Bahnhof zog vorbei, und der Zug beschleunigte wieder. Gütiger Gott, was konnte ich nur tun? Die Notbremse ziehen? Musste man nicht eine hübsche Summe Strafe zahlen, wenn man unbegründet eine Notbremse zog? Nun, dachte ich, ich hatte schon einen Grund – andererseits hatte ich mich selbst in diese Notlage gebracht, weil ich unerlaubterweise in den verdammten Zug gestiegen war… ob das zählte…? Außerdem: Wie würde der Zugführer reagieren? Ich an seiner Stelle würde es nicht wagen, den Zug zu durchsuchen, dachte ich. Ich würde mir vor Angst in die Hose machen! Was tat man denn als Zugführer in so einem Fall? Die Polizei rufen? Heiliger Himmel, dann würde der Ärger nur noch größer.

Oder was, wenn der Zugführer so sauer war, dass er mich einfach rausschmiss? Dann wäre ich nicht mal an einem Bahnhof. Nein – besser, ich wartete ab, bis der Zug seine Endstation erreicht hatte. Er wird ja nicht mitten in der Nacht einfach so quer durch Deutschland fahren, redete ich mir ein. Sicher hielt er bald an.

Die Zeit verstrich wie in Zeitlupe. Vor dem Fenster konnte ich immer wieder Bahnsteige, hin und wieder ein Gebäude, hauptsächlich aber Dutzende von Gleisen und verstreute Waggons erkennen. Ich kam mir vor wie in einem Freiluftmuseum für Züge! Dann bremsten wir ein zweites Mal ab. Hoffnungsvoll blickte ich nach draußen. Wie es aussah, waren wir auf einem riesigen Bahnhof eingefahren – aber wie um alles in der Welt hieß er? Wo waren wir?

Der Motor erlosch, und ich atmete auf. Wir blieben also hier – gleich würde ich mehr erfahren. Dann wurde mir mit einem Mal klar, dass es sinnlos war, an der Tür zu warten – denn natürlich würde sie sich nicht öffnen! Ich musste zum Fahrer, zurück zum Fahrer – ehe er ausstieg, den Zug verschloss und ich endgültig gefangen war! Ich stolperte los und stand kurz darauf ein zweites Mal vor der dicken Glasscheibe, die Waggon und Führerhäuschen trennte. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung war der Fahrer noch dort. Zögerlich hob ich eine Hand. Ich hatte keine Wahl – ich musste klopfen. Wenn er sich jetzt erschreckte, baute er immerhin keinen Unfall.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und trommelte gegen die Tür. Der Mann wandte den Kopf, doch es war zu dunkel, um sein Gesicht auszumachen. Er starrte in meine Richtung, doch ich hatte nicht das Gefühl, ihn übermäßig erschreckt zu haben. Ich setzte mein unschuldigstes Lächeln auf und winkte zaghaft. Der Zugführer reckte den Kopf vor, offenbar bemüht, mich in der Finsternis zu erkennen; schließlich erhob er sich langsam und drückte wohl auf irgendeinen Lichtschalter, denn im selben Moment wurde es hell. Ein relativ kleiner, runder Mann stand vor mir, und auf seinem freundlichen Gesicht spiegelte sich die blanke Verwirrung. Er öffnete die Glastür. „Hallo, Ent- Entschuldigung!“, stammelte ich hastig, ehe er fragen konnte. „Ich – ich wollte hier in München schnell auf die Toilette gehen. Ich wusste nicht, dass der Zug losfährt!“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber ich fürchtete noch immer, er würde mir vielleicht nicht helfen, wenn er wusste, wie sehr ich diese Situation selbst provoziert hatte… aus reiner Bequemlichkeit und Naivität. „Oh, das ist schlecht“, erwiderte der Zugführer langsam. „Wir sind hier im Güterbahnhof Pasing.“ „Pasing!“ Ich strahlte begeistert – da fuhren doch ständig S-Bahnen, Regionalzüge, und sogar die meisten ICEs in Richtung Augsburg hielten dort. Allerdings sagte mir das Gesicht des Zugführers, dass es an der Sache einen Haken gab…

„Nein, nein, nicht der Fernbahnhof Pasing. Das hier ist der Güterbahnhof – da sind Sie ganz weit weg vom Schuss. Wo müssen Sie denn hin?“ „Nach Augsburg“, antwortete ich. „Ich wollte den ICE um 03:17 in München nehmen…“
„Das sieht schlecht aus.“ Er dachte einen Moment lang nach. „Ich meine – ich könnte Sie mit zur S-Bahn nehmen, aber die fahren erst morgen früh wieder… 03:17 in München – keine Chance!“ „Hm.“ Ich starrte bestürzt zu Boden. Am nächsten Tag musste ich um spätestens viertel nach elf wieder raus – davor hätte ich gern noch einige Stunden geschlafen! „Na ja, warten Sie mal. Ich frag kurz beim Kollegen nach, was wir da machen könnten.“ Er wandte sich um, ließ sich wieder in seinem Fahrersitz nieder und zog sein Handy aus der Tasche… oder war es ein Funkgerät? Ich bin mir nicht mehr sicher.

„Grüß dich, ich bin’s!“, hörte ich ihn sprechen. „Du, hör mal – ich bin gerade hier im Güterbahnhof eingefahren und hab einen blinden Passagier an Bord.“ Ich musste unwillkürlich grinsen – was sich die Person am anderen Ende bei diesen Worten wohl denken mochte? „Sie muss nach Augsburg. Ihr Zug in München fährt um 03:17 – ja, vom Hauptbahnhof. Weißt du, ob heut noch irgendwas reinfährt?“ Ich spitzte gespannt die Ohren, konnte jedoch nichts von dem verstehen, was der Gesprächspartner erwiderte. „Ja… jaaa… okay… Gleis 23? Wo ist das denn? Aha… aha… gut… okay! Alles klar – dann machen wir uns auf den Weg. Danke dir!“ Mein Herz machte einen Hüpfer – das klang doch gut! Er legte auf und wandte sich zu mir um: „So, wir haben jetzt einen kleinen Fußmarsch vor uns. Der Kollege wartet auf Gleis 23, er wird Sie dann mit zum Hauptbahnhof nehmen.“ „Super!“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. „Wann fährt er denn ab?“, fragte ich. „Sobald wir da sind.“ Er öffnete die Tür nach draußen und schaltete das Licht aus, ehe er mit einem großen Schritt ausstieg. „Wartet er extra auf mich?“ Ich folgte ihm mit einem kleinen Sprung auf den Bahnsteig, schwer beeindruckt: So hilfsbereite Menschen lernte ich nicht oft kennen. „Nun ja – er hat eigentlich gerade Pause und würde sich erst in zwei Stunden auf den Weg in die Stadt machen. Aber da es ihm egal ist, ob er hier oder in München wartet, fährt er früher ab, damit Sie Ihren ICE noch erwischen.“

Er verschloss den Zug, und wir folgten gemeinsam dem Bahnsteig. Ich fand, dass es hier tatsächlich aussah wie „weit weg vom Schuss“ – einsam, verwildert und ein wenig chaotisch: Zwischen munter wuchernden Wiesen und hochgewachsenen Sträuchern führten kreuz und quer Gleise hindurch; hier und dort lag ein verloren wirkender Bahnsteig, überall waren unterschiedlichste Arten von Zügen, Lokomotiven und Waggons „geparkt“. Wir bewegten uns über Stock und Stein, stolperten durch Erdlöcher, über Schienen und Wurzeln. Ich wiederholte pausenlos, wie dankbar ich war, doch der Zugführer winkte ab: „Ich hab ja eh nix zu tun, und ’n bisschen Bewegung schadet mir nicht.“ Leider war er ansonsten nicht sehr redselig, und ich kam mir irgendwie unhöflich vor, während ich ihm schweigend folgte; doch ich wusste auch nicht wirklich, was ich sagen sollte. Schließlich erreichten wir ein kleines beleuchtetes Gebäude, das mich an die DB-Infohäuschen erinnerte, wie sie auf vielen Bahnsteigen errichtet sind. Eine kleine Metalltreppe führte hinauf; der Zugführer stieg empor und trat dann durch die Tür. Unsicher blieb ich auf der Schwelle stehen und wartete, während er sich von einem drinnen sitzenden Kollegen noch einmal den Weg erklären ließ. Kurz darauf kehrte er mit zufriedener Miene zurück. „So, weiter geht’s!“

Nach insgesamt etwa zwanzig Minuten deutete er schließlich geradeaus auf einen niedlichen kurzen Regionalzug, aus dessen Führerhäuschenfenster bereits der Kopf eines Mannes lugte. „Da ist er.“ Mit diesem Zug sollte ich also zurückfahren? Mal etwas Neues, dachte ich belustigt. „Na, da seid ihr ja!“ Der Zugführer, ein dunkelhaariger, bärtiger Mann mittleren Alters, grinste uns gutgelaunt entgegen. „Habt ihr mich also gefunden. Dann mal rein mit dir!“ Er zwinkerte mir freundlich zu.

Ich kramte in meiner Tasche, entschlossen, meinem ersten „Retter“ zum Abschied ein Trinkgeld zu geben; doch er lehnte vehement ab. „Nein, wirklich – kein Problem! Jeder Gang macht schlank!“ Er lachte. „Kommen Sie gut nach Hause – diesmal im richtigen Zug!“ Der zweite Zugführer stand mittlerweile an der geöffneten Tür und streckte mir eine Hand entgegen. Da sich der Einstieg ein ganzes Stück über dem Boden befand, ergriff ich sie dankbar. „Aber jetzt musste mir mal sagen: Wie kommt man denn auf so ’ne Idee?“, fragte er mich grinsend. „Ich musste auf die Toilette“, erwiderte ich entschlossen. „War’s denn so dringend?“ Er trat glucksend wieder ins Führerhäuschen, während ich mir zögerlich einen der Sitze hinunterklappte, die sich gleich gegenüber der Tür befanden.

„Setzen Sie sich doch hierher. Dann hab ich jemanden zum Plaudern!“ Kurzerhand winkte er mich nach vorne und schob mir einen Stuhl entgegen. Ich ließ mich darauf nieder, sehr angetan von der Idee, einmal selbst im Führerhäuschen zu sitzen – wann konnte man als gewöhnlicher Passagier schon einmal vorne rausgucken, während man Bahn fuhr?
Der Zugführer schien meine Gedanken zu lesen. „Ist doch viel cooler, mal an der Spitze zu hocken, oder? Das haste bestimmt noch nicht erlebt!“ Er setzte den Zug mit einem Ruckeln in Bewegung und startete. Langsam verschwanden die geradeaus führenden Schienen unter dem Leib unseres Zuges, während er sich in gemächlichem Tempo vorwärts bewegte.

„Noch mal vielen Dank auch an Sie“, sagte ich. „Ich dachte echt, die Nacht kann ich durchmachen!“ „Ach was, immer gerne!“ Der Zugführer lachte sein fröhliches Lachen. „Auf die Weise erlebt man mal was! Sonst sitzt man ja eh nur rum und liest Zeitung.“ Was erleben, das kann er laut sagen, dachte ich. Nach und nach all passierten wir die beleuchteten Bahnhöfe und Gebäude, die ich mir auf der unfreiwilligen Hinfahrt eingeprägt hatte in dem verzweifelten Versuch, einen Hinweis darauf zu erlangen, wo wir uns befanden… „Und du warst in München feiern?“, riss der Zugführer mich auf meinen Gedanken. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, arbeiten – in einer Tierklinik“, fügte ich erklärend hinzu, als die bei Menschen, denen ich diese Antwort gab, übliche Irritation auf sein Gesicht trat. „Wir haben noch einen Kaiserschnitt bei einer Katze durchgeführt.“ „Echt? Wie viele sind’s denn geworden?“ „Acht. Aber es haben nur vier überlebt; die Besitzer haben ewig gewartet, ehe sie zu uns gekommen sind. Wir haben dann über eine Stunde lang zu sechs Leuten versucht, die Babys ins Leben zu rubbeln“, erzählte ich. Ich freute mich immer, wenn sich jemand für den Beruf interessierte, der mir selbst so viel Freude bereitete. „Aber eines kam schon ohne Herzschlag zur Welt, und die anderen waren einfach zu schwach.“

„Oh, na ja. Immerhin. Sag mal, wieso hast du eigentlich nicht gleich beim Kollegen angeklopft, als der Zug losgefahren ist?“ „Ich wollte ihn nicht zu Tode erschrecken“, erwiderte ich seufzend. „Ja, das könnte wirklich passieren“, stimmte er mir nachdenklich zu. „Trotzdem – wie lang wolltest du denn warten? Der hätte ja genauso gut nach Köln fahren können!“ Darauf wusste ich nicht wirklich etwas zu erwidern. „Passiert so was öfter mal? Ich meine – dass plötzlich Leute in einem Leerzug sitzen?“, fragte ich stattdessen neugierig. „Oh, ab und zu schon. Ich hab’s auch schon mal erlebt. Da hatten sich zwei im Zug schlafen gelegt und als sie aufwachten, fuhren sie gerade mitten durch die Pampa. Die Herrschaften haben richtig Panik bekommen und dann die Notbremse betätigt. Da war mir auch nicht wohl bei, kann ich dir sagen: 60 km lang fahren in dem Glauben, man sitzt allein im Zug – und plötzlich zieht einer die Notbremse!“ Ich lachte. Plötzlich fiel mir auf, welch ein unverschämtes Glück ich gehabt hatte, dass mein Zug nur aus einem einzigen Zugteil bestanden hatte – andererseits hätte ich gar nicht bis zum Fahrer durchdringen können! Zum Glück ist mir dieser Horrorgedanke nicht vorhin gekommen, schoss es mir durch den Kopf.

Vor uns kam die riesige, prächtig beleuchtete Bahnhofshalle des Münchener Hauptbahnhofs in Sicht. Es war ein eindrucksvoller Anblick, wenn man so unmittelbar darauf zu fuhr; ich konnte mich gar nicht satt sehen! Beeindruckt beobachtete ich, wie unser Zug sich problemlos auf einer der ununterbrochen über Kreuz laufenden, sich überschneidenden, verzweigenden oder zusammenlaufenden Schienen einfädelte. Langsam glitten wir an unserem Bahnsteig vorbei, bis der Zug schließlich in seiner vollen Länge danebenstand und anhielt. „Da wären wir. Das da hinten ist der ICE über Ausgburg!“

Glücklich verabschiedete ich mich von dem zweiten unwahrscheinlich hilfsbereiten Zugfahrer, den ich heute kennen gelernt hatte – und der ebenfalls aufs Trinkgeld verzichtete – und machte mich auf den Weg zu meinem ICE. Dabei stellte ich begeistert fest, dass er mittlerweile beleuchtet war und Passagiere darin saßen – ich hatte den Abend tatsächlich ohne Frieren überstanden; dank zweier Zugfahrer, die mir ohne zu zögern aus der Patsche geholfen hatten. Ein wirklich netter Zug.

Melina Klein, 22, Augsburg (Bayern)

Die Würdigung der Jury

Der Retter in der Nacht

Eine blinde Passagierin mitten in der Nacht – Lokführer Nico Hilsberg macht nicht viel Aufhebens um die Sache.

Eine blinde Passagierin mitten in der Nacht – Lokführer Nico Hilsberg macht nicht viel Aufhebens um die Sache. Er greift auf dem Güterbahnhof zum Handy, die Kommunikation beschränkt sich weitgehend auf „Ja… okay… Gleis 23? Aha… … gut!

Der 36-Jährige, der normalerweise alleine auf seiner Lok sitzt, ist kein Freund großer Worte, aber Retter in der Nacht. Er hilft der jungen Frau, pünktlich wieder am Hauptbahnhof in München zu sein. Für die Allianz pro Schiene-Jury ist Nico Hilsberg der Inbegriff des hilfsbereiten Lokführers in Ausnahmesituationen. Er hat in einem Extremfall richtig reagiert. Nicht, weil er es in einer „Service-Schulung“ so gelernt hat oder es in irgendeinem Dienstplan stand, sondern, weil er es als selbstverständlich, in seinen Worten „pflichtmäßig“, empfunden hat.

Soviel innere Eigenverpflichtung zur „pflichtmäßigen“ Vorbildlichkeit belohnt die Jury mit dem zweiten Platz beim „Eisenbahner mit Herz 2011“. Mögen viele Fahrgäste, wenn sie selber einen Fehler gemacht haben, auf solche Helfer stoßen. Sie werden es dann eher entschuldigen, wenn es bei der Bahn mal nicht ganz so rund läuft.