Gold: Jonni Käsehage

Eisenbahner mit Herz – Goldmedaille

Detektivarbeit mit Happy End

Einen Tag vor Weihnachten bleibt im Regionalexpress Osnabrück-Bremerhaven ein Laptop im Zug liegen: Der Zugchef Jonni Käsehage findet das Gerät und recherchiert mit Hilfe eines beiliegenden Tickets die Besitzerin.

Die Kundin ist über den Verlust ihres Firmen-Laptops in Tränen aufgelöst. Doch dann kommt der erlösende Anruf: Es ist „das schönste Weihnachtsgeschenk“, sagt die junge Frau. Die alte Fahrkarte nimmt sie seitdem als Glücksbringer mit auf jede Reise.

Das Porträt

Einer aus’m Dorf

Schon bei seiner Geburt war Jonni Käsehage überpünktlich. Im siebten Monat stolperte seine Mutter im norddeutschen Bramstedt über einen Hühnerdraht und brachte kurz darauf einen gesunden Jungen zur Welt.

Auch 53 Jahre später ist der Mann mit dem friesischen Vornamen Jonni gern zur rechten Zeit am rechten Ort. Wenn sich die Fahrgäste im RE Osnabrück – Bremerhaven mal wieder über Verspätungen ärgern, dann ärgert sich der Zugbegleiter mit ihnen. Viele der Fahrgäste kennt er sowieso mit Namen. Sie fahren seit Jahren seine Strecke und sitzen immer auf demselben Platz. „Wir sind zusammen alt geworden“, sagt Käsehage, der seit April 1974 bei der Deutschen Bahn arbeitet und 1987 vom Stellwerksdienst in den Zugbegleitdienst wechselte.

Zunächst wollte er im Fernverkehr anheuern, doch dann sah er die Dienstpläne. „Jede Nacht woanders, das ist nichts für einen aus‘m Dorf.“ Für die kleinen und großen Missgeschicke auf Reisen hat Käsehange noch immer eine Lösung gefunden. „Ich kenne keine Probleme, ich bin verheiratet“, sagt er gern: Ob es ein allein reisendes Baby mit voller Windel ist oder eine Frau, deren Hose auf dem Weg zum Bewerbungsgespräch platzt, Käsehage packt an und schafft das Kümmernis aus der Welt.

So auch Heilig Abend, als er solange recherchierte, bis er die völlig verzweifelte Besitzerin eines im Zug liegengebliebenen Laptops ausfindig gemacht hatte. Für ihr „schönstes Weihnachtsgeschenk“ bedankte sich die junge Frau auf ihre Weise: „Jonni Käsehage ist mein Eisenbahner mit Herz.“ Genauso sah es dann auch die Jury der Allianz pro Schiene.

Das Interview

„Schornsteinfeger war mir zu dreckig“

Jonni Käsehage über Traumberufe, Dramen im Zug und Fahrgäste, die ihren Schaffner verteidigen.

Herr Käsehage, ganz Deutschland hat im Dezember über das Winterchaos bei der Bahn geklagt. Was ist derweil im Regionalexpress Osnabrück – Bremerhaven geschehen?

Es war ein Tag vor Heilig Abend. Ich hatte Spätdienst und bin mit dem Zug von Osnabrück nach Bremerhaven-Lehe gefahren. Da ist Endstation. Wie immer ging ich noch einmal durch den leeren Zug, um zu sehen, ob es grobe Verunreinigungen oder Beschädigungen gab. Plötzlich fand ich einen kleinen Koffer. Ich schaute rein und sah, dass er einen Laptop enthielt. Weil ich Dienstschluss hatte und den Koffer auf der Dienststelle nicht lassen konnte, nahm ich ihn mit nach Hause. Sicherheitshalber rief ich bei der 3-S-Zentrale in Bremen an und bat den Kollegen, meinen Fund ins Dienstbuch einzutragen. Unterschlagung von Fundsachen, der Eindruck soll schließlich auch nicht aufkommen. Ich sagte: „Ich nehme das Ding jetzt mit nach Hause und bringe es zum Service Point in Bremen, wenn ich am 2. Weihnachtstag wieder Dienst habe.“ Dieselbe Nachricht habe ich auch noch mal bei meiner Leitstelle hinterlassen, schließlich war das ein sehr wertvolles Gerät. Ich stellte den Koffer dann bei mir zu Hause in den Flur.

Aber da haben Sie ihn nicht einfach stehen lassen?
Nein, dazu war ich zu neugierig. Am nächsten Morgen, es war Heilig Abend, hatte ich Zeit. Schließlich hatte ich keinen Dienst. Ich machte den Koffer auf und fand darin in einer Seitentasche versteckt ein altes Online Ticket. Es war auf den Namen Sarah Lips ausgestellt. „Den Namen kennst du doch“, dachte ich mir. Ein alter Zugführerkollege aus dem Fernverkehr heißt Lips und wohnt in Bremerhaven. „Ruf’ den doch mal an.“ Gesagt getan, er war gleich dran. „Die Dame kenne ich“, sagte er. „Das ist eine Verwandte von mir. Ich gebe dir sofort die Telefonnummer.“ Kurze Zeit später hatte ich die Mutter am Apparat.

„Hier ist die Deutsche Bahn, Zugführer Käsehage. Vermissen Sie vielleicht etwas aus dem Zug?“, fragte ich sie. „Ja“, sagte sie. „Wir haben einen ganz schlechten Tag gehabt. Meine Tochter vermisst ihr Arbeitslaptop. Da sind alle wichtigen Daten drauf, alle Zugangsdaten zur Firma. Sie hat auf der Arbeit auch schon richtig Ärger bekommen.“

„Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich das Gerät gefunden habe. Es liegt jetzt hier vor mir. Sie können es bei mir direkt abholen. Oder sie bekommen es am zweiten Weihnachtstag in Bremen.“ So geschah es dann auch. Zwei Tage später hatte die Kundin ihr Laptop wieder.

Sie haben ihr aber auch noch einen kleinen Brief dazu geschrieben.
Das mache ich immer so. Ich will, dass die Leute dann auch einen Ansprechpartner haben. Ich habe einfach die ganze Geschichte aus meiner Sicht aufgeschrieben und ihr den Zettel in den Koffer getan.

Wenn Sie die negativen Schlagzeilen über die Bahn in der Zeitung lesen – Eischaos im Winter, Hitzekollaps im Sommer – was denken Sie dann?
Ich finde das schon ein wenig ärgerlich. Schließlich zahlen die Leute viel Geld für ihre Fahrkarte. Und auch für uns Zugführer ist es netter, wenn alles reibungslos läuft. Umso mehr freut es mich, dass meine ganz persönliche Wintergeschichte eine andere ist.

Es gibt Schaffner, die in der Eisenbahn ein Baby zur Welt bringen. Viel häufiger liest man aber über Kinder, die ausgesetzt werden oder Kleinkinder, die allein fahren müssen, weil der Zug ohne die Eltern abfährt. Haben Sie so etwas schon mal erlebt?
Ja, und das war sogar ganz nett. Ich fuhr damals mit einem Regionalexpress von Hannover los, da stieg eine Familie ein: Kinderwagen, Baby und ein fünfjähriges Mädchen. Offenbar sind die Eltern aber wieder ausgestiegen, um noch eine zu rauchen. Der Lokführer schaute aus dem Fenster, sah keinen mehr, schloss die Türen und fuhr los. Ich ging durch den Zug und sah zufällig das kleine Mädchen. Es weinte und weinte und ließ sich gar nicht trösten. Was nun?

Wir riefen den Bundesgrenzschutz an und organisierten die Übergabe. „Habt ihr weibliches Personal vor Ort?“ Nein, hatten sie nicht. „Habt ihr Pampers? Das Baby quillt nämlich gerade über.“ Da war das Gelächter groß. Die Eltern hatten sich in der Zwischenzeit auch schon bei der Polizei gemeldet und kamen mit den nächsten Zug hinterher.

Passieren solche außergewöhnlichen Szenen oft?
Nein, nicht jeden Tag. Aber auch bei den kleinen Dramen ist Fingerspitzengefühl wichtig. Wir hatten einmal eine Kundin im Zug, die fuhr zu einem Bewerbungsgespräch. Ihre Hose war im Schritt geplatzt. Was tun? Sie war ganz aufgelöst. Ein Kollege rief schnell seine Frau an, die kam mit Nadel und Faden zum nächsten Bahnhof und die Kundin konnte dann ganz in Ruhe auf dem Klo ihre Hose wieder zusammenflicken. Als Zugbegleiter muss man schon im Vorfeld erkennen, was der Mensch von einem will. Wenn man dann noch aus der Seele raus, aus dem Bauch und mit Herz arbeitet, dann kommt man ganz prima klar.

Wie erleben Sie das Image Ihres Berufes?
Das ist eine seltsame Sache: Solange es reibungslos läuft, ist alles wunderbar. Aber wenn es mal zwei drei Minuten Verspätung gibt, dann wandelt sich das. Im Nu bist du der Prellbock für die gesamte Bahn. „Schon wieder“, heißt es dann. Trotzdem kommt es auch vor, dass mich andere Fahrgäste gegen solche Angriffe verteidigen.

Wie geht das?
Sie müssen sehen, dass wir hier im Nahverkehr fahren. Wir bringen morgens die Menschen zur Arbeit und abends bringen wir sie zurück. Viele erzählen uns, was sie den Tag über erlebt haben, wir bleiben stehen und klönen ein bisschen. Wenn wir dann Ärger im Zug haben, kommt es durchaus vor, dass unsere Stammfahrgäste aufstehen und sagen: „Lassen Sie diesen armen Schaffner zufrieden, der kann gar nichts dafür.“

Sie sagen gerade „Schaffner“. Wie nennen Sie Ihren Beruf?
Wir sind „Kundenbetreuer im Nahverkehr“, früher waren wir Schaffner. Ältere Herrschaften kennen noch den Kontrolleur. Ich habe diese Stufen alle mit durchgemacht.

Haben sich die Fahrgäste über die Jahre verändert?
Sicher. Früher gab es mehr Respekt vor einer Uniform. Heute sind die Leute freier. Oder frecher. Jeder hat Internet, jeder kann sich mal schnell beschweren. Das geht heute ratzfatz.

Wollten Sie schon als kleiner Junge Zugbegleiter werden?
Nein. Mit sechs Jahren wollte ich noch Schornsteinfeger werden. Aber dann war mir das zu dreckig. Mit der Deutschen Bahn bin ich doch sehr gut gefahren.

Sie sind der erste Eisenbahner mit Herz. Wie gefällt Ihnen das?
Prima. Es hätte eigentlich keinen anderen treffen können.

Die Einsendung der Kundin

Ende einer langen Reise

Es war der 23.12.2010, mein Urlaub stand kurz bevor, und ich wollte zu Hause noch einige Sachen vorbereiten. Also beschloss ich meinen Firmen-Laptop mit nach Hause zu nehmen.

Ich stieg am Hauptbahnhof in Bremen in den Regional Express, der um 18:56 Uhr nach Bremerhaven-Lehe fährt. Wie es nun mal zur Weihnachtszeit ist, sind die Züge sehr voll, da alle zu ihren Familien reisen wollen. Natürlich mit viel Gepäck. Bevor ich mich zu einer Familie in einen vierer Platz setzte, haderte ich lange mit mir, ob ich meinen Laptop nun oben in die Ablage packen sollte oder nicht. Ich tat es, setzte mich und dachte die ganze Zeit: „Denk an den Laptop, denk an den Laptop“. Danach vertiefte ich mich in mein Buch.

Als der Regional Express in Bremerhaven ankam, schnappte ich mir nur meine Handtasche und meine Jacke, stieg aus und in die Nordseebahn ein. Dort traf ich dann eine Kollegin, die über Weihnachten zu ihrer Familie nach Cuxhaven wollte. Als ich dann in Wremen ausstieg und mein Auto aufschloss, dachte ich mir: „Komisch, irgendwas hast du noch mitgehabt. Was hatte ich bloß noch mit?“ Plötzlich schoss es mir durch den Kopf – mein Lap-Top!

Ich rief sofort meine Mutter an und sagte ihr, dass sie schon mal schnell das Internet an machen sollte, um eine Telefonnummer vom Bremerhavener Hauptbahnhof heraus zu bekommen und fuhr schnell nach Hause. Leider musste ich nach hektischer Nummernsuche und telefonieren feststellen, dass man die Bahnhöfe gar nicht direkt erreichen kann und der Kunden-Service in Bremerhaven zu der Zeit auch nicht mehr besetzt war.

Da ich weiß, dass der Zug, bevor dieser zurück nach Bremen fährt, erst mal in die Abstellung kommt, wollte ich mit der nächsten Nordseebahn zurück nach Bremerhaven fahren, um dort den Zug abzufangen. Aber der Zug nach Bremerhaven war schon weg. Zwischendurch habe ich am Telefon noch eine Verlustmeldung aufgegeben.

Ab diesem Zeitpunkt war mir klar: Den siehst du nie wieder! Als nächstes versuchte ich unter Tränen jemanden aus der Firma zu erreichen, um den Laptop sperren zu lassen. Mein Arbeitskollege versuchte, mich zu beruhigen und sagte, dass der Laptop bestimmt wieder auftaucht und abgegeben wird. Ich war völlig aufgelöst, denn für mich war klar: Der ist weg!

Nächsten Tag auf der Arbeit versuchte ich aus lauter Verzweiflung andauernd herauszufinden, ob sich bezüglich der Verlustmeldung schon etwas getan hatte – leider nicht. Ich war immer noch aufgelöst und hatte ein schlechtes Gewissen. Da es Heilig Abend war, haben wir vormittags in der Firma gefrühstückt. Es klingelte das Telefon und meine Kollegin gab mir den Hörer. Meine Mutter war dran und sagte, dass sie mir unbedingt jetzt schon erzählen müsste, was ich zu Weihnachten bekäme. Ich würde mich sehr freuen.

Ich stimmte zu und sie erzählte mir, dass gerade ein Zugführer (Herr Käsehage) bei uns zu Hause angerufen hat und meinen Laptop gefunden und mit nach Hause genommen hat. Dieser würde am zweiten Weihnachtstag wieder anfangen zu arbeiten und den in Bremen am Bahnhof für mich hinterlegen.

Mir fiel so ein großer Stein vom Herzen. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich war so erleichtert und sagte zu meiner Mutter, dass dies wirklich das beste Weihnachtsgeschenk sei und mir Herr Käsehage das Weihnachtsfest gerettet hat. Dann fragte ich mich, wie Herr Käsehage an meinen Namen und meine Telefonnummer gekommen ist. Meine Mutter erzählte mir, dass Herr Käsehage meinen Namen von einem alten Online-Ticket aus meiner Tasche hatte.

Er erzählte meiner Mutter, dass ihm der Nachnahme bekannt vorkam. Er konnte sich an einen ehemaligen Kollegen erinnern, der auch Lips heißt – mein Onkel. Über diesen hat Herr Käsehage dann meine Telefonnummer herausgefunden. Ich war total baff. Mein Laptop war in sicheren Händen und Herr Käsehage hatte sich so unglaublich viel Mühe gegeben herauszufinden, wem er gehört. Solch eine Mühe hätte sich nicht jeder gemacht. Das war auf keinen Fall selbstverständlich.

Für mich war auf jeden Fall klar, dass ich mich irgendwie bedanken wollte. Ich fand über eine Internet-Seite die Adresse von Herrn Käsehage und machte mich am 27.12.2010 auf den Weg nach Bremen, um meinen Laptop abzuholen und um auf dem Rückweg bei Herrn Käsehage vorbei zu fahren, um ihm eine Schachtel Pralinen zu bringen.

Leider war ich ganz umsonst aufgeregt, da Herr Käsehage nicht zu Hause war. Aber ich nahm mir vor, ihn nochmal anzurufen. Als ich gerade wieder zu Hause angekommen war, klingelte das Telefon. Herr Käsehage wollte sich für die Schachtel Pralinen bedanken. Kurze Zeit später schaute ich in meine Laptop-Tasche und fand einen Brief. Ich war sehr überrascht. Herr Käsehage hatte mir einen sehr netten Brief beigepackt. Dieser startete mit: „Wenn Sie diesen Brief in den Händen halten, ist eine lange Reise zu Ende“.

Sarah Lips, 22, Wremen (Niedersachsen)

Die Würdigung der Jury

Einer, der Kunden glücklich macht

Eigeninitiative ist im reglementierten Eisenbahnbetrieb oft nur begrenzt möglich. Doch das Regelwerk bremst nicht alle aus: Wer aus einem innerem Antrieb handelt, geht schon damit über die Dienstroutine hinaus.

Jonni Käsehage hat dieses innere Feuer für seinen Beruf. Es ist ihm nicht egal, was mit verlorenen Wertgegenständen „seiner“ Kunden passiert. Der 53-Jährige kümmert sich – auch jenseits der Dienstzeit im Regionalexpress.

Mit seiner in der Freizeit erledigten Recherche hat Jonni Käsehage einer Kundin auf schnellstmöglichem Wege ihren im Zug vergessenen Laptop zurückgebracht. Für die Allianz pro Schiene-Jury ist Jonni Käsehage ein engagierter Herzblut-Eisenbahner, der Kunden glücklich macht – unser „Eisenbahner mit Herz 2011“.