Hintergrund: Regionalisierung des Schienennahverkehrs

Jahrzehntelang wurde in fast ganz Europa der regionale Schienenpersonenverkehr vernachlässigt. Sinkende Fahrgastzahlen und Streckenstilllegungen waren an der Tagesordnung. Doch seit Mitte der 1990er Jahre erlebt der regionale Schienenverkehr in Deutschland eine bemerkenswerte und anhaltende Renaissance: Moderne Züge und ein dichtes Fahrplanangebot haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen den umweltfreundlichen und sicheren Schienenregionalverkehr nutzen. Wie ist es zu dieser positiven Trendwende gekommen?

Neue Strukturen und Verantwortlichkeiten

In den Jahren 1994 bis 1996 wurden in Deutschland die Strukturen und die Marktorganisation des regionalen Schienenpersonenverkehrs grundlegend neu geordnet. Die beiden entscheidenden Kernpunkte der Neuordnung waren:

Regionalisierung der Verantwortung für den regionalen Schienenverkehr
Über Art und Umfang des regionalen Schienenpersonenverkehrs in Deutschland entscheiden seit 1996 die 16 Bundesländer, also die regionale politische Ebene. Zugleich wurden die Beziehungen zwischen der politischen Ebene (Bundesländer) und den Eisenbahnverkehrsunternehmen, die den Zugverkehr durchführen, neu geregelt. Hier wurde ein so genanntes „Besteller-Ersteller-System“ eingeführt: Die Bundesländer legen fest, welchen Umfang das regionale Schienenverkehrsangebot haben soll. Sie erteilen – oft als Ergebnis einer öffentlichen Ausschreibung – einen entsprechenden Auftrag („Bestellung“) an ein oder mehrere Eisenbahnverkehrsunternehmen. Hierdurch wurden die Voraussetzungen für Wettbewerb bei den Erstellern, d.h. den Eisenbahnverkehrsunternehmen geschaffen.
Mit der Regionalisierung wurde in Deutschland erstmals eine klare und sinnvolle verbrauchernahe Zuständigkeit für den regionalen Schienenverkehr geschaffen.

Gesicherte Finanzierung für den regionalen Schienenverkehr
Die Übertragung der Verantwortung für den regionalen Schienenpersonenverkehr auf die Bundesländer konnte nur gelingen, weil gleichzeitig eine solide Finanzierungsgrundlage geschaffen wurde. Seit 1996 erhalten die Bundesländer jährlich vom Bund einen Teil der Einnahmen aus den Steuern auf Benzin und Dieselkraftstoff (Mineralölsteuer). Dieser Betrag, der auch „Regionalisierungsmittel“ genannt wird, steht den Bundesländern auch zukünftig jährlich zur Verfügung. Lediglich die Höhe des Betrages hat sich seit 1996 mehrfach verändert. Der Betrag wird dabei nach einem festen Verteilungsschlüssel auf die 16 Länder aufgeteilt. Die Regionalisierungsmittel sind zweckgebunden, d.h. die Bundesländer dürfen diese Gelder nur für Zwecke des öffentlichen Nahverkehrs ausgeben. Ein Großteil der Gelder wird für die Bestellung des Zugangebotes eingesetzt, also für den Einkauf von Zugleistungen bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen. Erhebliche Summen werden aber auch für Investitionen in die Schieneninfrastruktur und in moderne Fahrzeuge verwendet.

Die Regionalisierungsmittel sind somit das finanzielle Fundament des regionalen Schienenverkehrs. Hinzu kommen die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf, die allein aber nicht ausreichen würden, um den regionalen Schienenverkehr insgesamt zu finanzieren. Grundlage für die Finanzierung teilweise aus Steuermitteln ist die politische Einsicht bei allen Parteien, dass der regionale Schienenverkehr als Teil der Daseinsvorsorge eine wichtige öffentliche Aufgabe erfüllt.
Beim Schienenfernverkehr sehen die Rahmenbedingungen dagegen anders aus: Der Bund beteiligt sich hier nur an der Finanzierung der Infrastrukturinvestitionen (DB Netz AG), die Verkehrsunternehmen (bislang wird Schienenfernverkehr fast ausschließlich von der DB Fernverkehr AG angeboten) müssen ihre Kosten vollständig aus den Fahrgeldeinnahmen decken.

 

Erfolgreiche Konzepte vor Ort

Die Mitte der 1990er Jahre eingeführten neuen Verantwortlichkeiten und Strukturen bilden den Rahmen für die Renaissance des regionalen Schienenverkehrs in Deutschland. Ebenso wichtig wie die Rahmenbedingungen sind jedoch neue Konzepte vor Ort, die die spezifischen Potenziale des Schienenverkehrs in der jeweiligen Region konsequent nutzen. Solche Konzepte wurden inzwischen in Deutschland in allen Bundesländern in großer Zahl entwickelt und erfolgreich umgesetzt.

Bei allen Unterschieden im Einzelfall verfügen diese Konzepte über eine Reihe gemeinsamer Kernelemente, die als zentrale Erfolgsvoraussetzungen gelten können:

Koordinierung der Verkehrsträger statt ungeordneter Konkurrenz
Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg neuer Konzepte ist die Koordinierung der verschiedenen Verkehrsträger und Angebote. Eine abgestimmte Planung sorgt heute in den meisten Bundesländern dafür, dass Busverkehr nicht mehr als Konkurrenz parallel zum Schienenverkehr angeboten wird, sondern stattdessen als Zubringer. Vielerorts wurden neue Umsteigemöglichkeiten zwischen Bus und Schiene geschaffen. Zugleich wird darauf geachtet, dass günstige Anschlüsse zwischen Schienenfernverkehr und regionalem Schienenverkehr bestehen. Ebenfalls erleichtert wurde das Umsteigen vom Pkw auf den Zug: Besonders im Umland von Ballungsräumen wurden so genannte „Park + Ride-Parkplätze“ eingerichtet, wo der Pkw abgestellt und die Fahrt mit dem Zug fortgesetzt werden kann.
Die regionale Verantwortung für den Schienenverkehr hat die Koordinierung der verschiedenen Verkehrsträger deutlich vereinfacht. Alle relevanten Akteure, d.h. Politik, Verkehrsunternehmen und Fahrgastverbände sind in der Region präsent und können gemeinsam Lösungen erarbeiten.

Einfache und kundenfreundliche Tarife
Ebenso wichtig wie eine bessere Koordinierung der verschiedenen Verkehrsträger sind für die Fahrgäste einfache und kundenfreundliche Tarife. In vielen Regionen Deutschlands ermöglichen heute Verkehrsverbünde ein problemloses Umsteigen zwischen Zug und Bus, da die Fahrkarten durchgehend in allen öffentlichen Verkehrsmitteln gelten. In jedem Fall gelten Fahrkarten des Schienenfernverkehrs auch in Regionalzügen und auch dann, wenn in einer Region Züge verschiedener Eisenbahnunternehmen verkehren.

Takt-Fahrplan und gute Anschlüsse
Wichtig für den Erfolg des regionalen Schienenverkehrs sind einfach zu merkende Fahrpläne und gute Anschlüsse. In den meisten Regionen wurden daher so genannte Takt-Fahrpläne eingeführt, die garantieren, dass die Züge in regelmäßigen Abständen fahren (z.B. alle 60 Minuten), und die für kurze Wartezeiten beim Umsteigen sorgen.

Investitionen in Fahrzeuge und Infrastruktur
Wesentlich zum Erfolg des regionalen Schienenverkehrs in den letzten Jahren haben auch die Investitionen in Fahrzeuge und Infrastruktur beigetragen. Neue Schienenfahrzeuge sind sauber, komfortabel und damit attraktiv für die Fahrgäste. Die Investitionen in die Infrastruktur haben zu kürzeren Reisezeiten und gesteigerter Pünktlichkeit geführt.

Geringe Kosten im laufenden Betrieb
Bei zahlreichen regionalen Strecken und Betreibern wird auf geringe Investitions- und Betriebskosten Wert gelegt, was gerade bei geringen Fahrgastzahlen eine große Rolle spielt. So sind neue Fahrzeuge in der Regel erheblich günstiger im Unterhalt. Für den Streckenausbau gibt es inzwischen zahlreiche technische Lösungen, die Betriebskosten einsparen, und durch die konsequente Ausschreibung von Planungs- und Bauleistungen können auch diese günstig eingekauft werden.

 

Der Erfolg in Zahlen

Der Erfolg der neuen Rahmenbedingungen und der Konzepte vor Ort spricht für sich: Von 1996 bis 2019 ist in Deutschland die Zahl der Fahrgäste im regionalen Schienenverkehr um über 85 Prozent gestiegen – von 1,5 Milliarden auf 2,8 Milliarden beförderte Personen pro Jahr. Das heißt: Der regionale Schienenverkehr ist heute besser ausgelastet und damit deutlich effizienter. Neben dem großen Erfolg bei den Fahrgästen steht also auch ein großer wirtschaftlicher Erfolg.