Themen: Infrastruktur

Neue Finanzierungsmodelle: Bürgerbeteiligung beim ÖPNV Ausbau?

Interview mit Oliver Mietzsch (Geschäftsführer des Zweckverbandes für den Nahverkehrsraum Leipzig)

Nutznießerfinanzierung_ÖPNV Infrastruktur
Oliver Mietzsch, Geschäftsführer des Zweckverbandes für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL), hat ein Modell zur Finanzierung der schienengebundenen ÖPNV-Infrastruktur entwickelt. Die Idee: Bürger, die von den Angeboten profitieren, werden an den Kosten beteiligt.

Verkehrsverlagerung geht nur mit mehr Investitionen in die schienengebundene ÖPNV-Infrastruktur. Doch die Finanzierung fällt gerade vielen Kommunen schwer. Oliver Mietzsch, Geschäftsführer des Zweckverbandes für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL), hat sich dafür eine Lösung ausgedacht. Sein Modell zur Nutznießerfinanzierung soll den Städten dabei helfen, den Ausbau des Schienennetzes zu stemmen. Im Interview mit der Allianz pro Schiene verrät er, wie das funktionieren kann.

 

Herr Mietzsch, bislang finanziert die öffentliche Hand den Großteil der schienengebundenen ÖPNV-Infrastruktur auch in Städten. Das soll sich aber nach Ihrem Modell zukünftig ändern. Wie soll eine Angebotsausweitung in Zukunft finanziert werden?

Da es sich bei der Finanzierung des Infrastrukturneu- und ausbaus um eine öffentliche Aufgabe handelt, wird der größte Teil auch in Zukunft aus Steuermitteln finanziert werden müssen. Allerdings zahlen die Kommunen bei den meisten steuerfinanzierten Modellen, wie zum Beispiel dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, einen Eigenanteil. Der liegt meistens zwischen 5 bis 15%. Das klingt erstmal wenig, aber bei Großbaumaßnahmen über 100 Millionen Euro sind 15% sehr viel Geld. In meiner Dissertation habe ich mich also mit der Frage beschäftigt, woher das Geld kommt, wenn sich die Städte diesen Eigenanteil nicht leisten können.

Und wer kann den Städten bei der Finanzierung unter die Arme greifen?

Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man nimmt das Geld von den Nutzern, sprich den Fahrgästen. Hier ist allerdings bald das Ende der Fahnenstange erreicht.  Ich schlage vor, diejenigen, die einen nachweislichen Vorteil von der neuen Infrastruktur haben, zur Kasse zu bitten. Ich spreche hier von den sogenannten Nutznießern. Ist eine Immobilie mit öffentlicher Verkehrsinfrastruktur gut erschlossen, kann der Eigentümer die Miete entsprechend hoch ansetzen oder seine Immobilie teurer verkaufen. Dieser private Mehrwert sollte sich, meines Erachtens nach, in einer Beteiligung bei der Finanzierung widerspiegeln.

Wieso wollen Sie gerade Immobilieneigentümer belasten?

Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) hat 2014 den Mehrwert von Immobilien durch eine ÖPNV-Anbindung in sechs Städten untersucht. Im Schnitt lag dieser Anteil bei ca. 4%. Das klingt auf den ersten Blick wenig, in Ballungszentren hingegen kann dieser Prozentsatz auf bis zu 30% steigen.

Welche Vorkehrungen müssen getroffen werden, damit so ein Finanzierungsmodell mit Bürgerbeteiligung auch in der Praxis funktioniert?

Um eine finanzielle Beteiligung von Nutznießern rechtlich durchzusetzen, muss der Vorteil für die beitragspflichtigen Immobilieneigentümer durch den ÖPNV rechtlich nachweisbar sein. Bei der Straße funktioniert dies bereits durch die Fiktion des Allgemeingebrauchs: Sie ist, zumindest theoretisch, für jedermann zugänglich und nutzbar. Daher darf auch jeder Anlieger einer Straße an deren Ausbau beteiligt werden, sofern die Länder das so vorsehen.
Ein Straßenbahngleis oder eine U-Bahn vor der Haustür nützt Ihnen natürlich per se nichts, wenn die nächste Haltestelle 5 km entfernt ist oder nur einmal am Tag eine Bahn fährt und dann noch in eine andere Richtung. Daher habe ich in meiner Arbeit verkehrliche Parameter der Erreichbarkeit und Erschließungsqualität bei einer neuen Infrastruktur aufgestellt. So kann man messen, welchen Nutzen der einzelne Bürger von dem geplanten Angebot wirklich hat. Erst damit steigt die Rechtssicherheit für ein solches Finanzierungsmodell mit Bürgerbeteiligung, vorausgesetzt die Länder ändern ihre kommunalen Abgabengesetze entsprechend.

Wie möchten Sie den jeweiligen Nutzengewinn für den einzelnen Bürger messen?

Nutznießerfinanzierung ist für Oliver Mietzsch (ZVNL) eine Gerechtigkeitsfrage.
Oliver Mietzsch (Geschäftsführer ZVNL) hat ein neues Finanzierungsmodell für die Schieneninfrastruktur im Nahverker entwickelt

Den Nutzengewinn kann man nur abstrakt messen. Die Bürger zahlen letztendlich für die Möglichkeit, das Angebot nutzen zu können. Das ist beim Rundfunkbeitrag oder beim Beitrag für den Straßenausbau nicht anders. Um dennoch möglichst genaue Messungen durchzuführen, habe ich zusammen mit Marcus Peter, einem früheren wissenschaftlichen Mitarbeiter der TU Hamburg, den sogenannten „ÖV-Erreichbarkeitsindex“ entwickelt. Mit diesem Instrument bilden wir die wahrscheinlichen Mobilitätsbedürfnisse der Bürger ab. Dabei orientieren wir uns an den praktischen Anlässen für die tägliche Nutzung des ÖPNV. Die Menschen nutzen den ÖPNV, um zur Arbeit zu kommen, einkaufen zu gehen oder sich gegenseitig zu besuchen. In einer Matrix haben wir versucht, diese Anlässe in ein Verhältnis zu bringen und gegeneinander zu gewichten. Neben diesen Anlässen spielen auch räumliche Parameter in der Nutzung der Angebote eine Rolle: Ausschlaggebend für die Nutzung ist immer der Anlass in Relation zur Entfernung der Haltestelle und zum jeweiligen Taktangebot.

 

Wie genau funktioniert Ihr Modell in der Anwendung?

Wir haben unser Modell auf eine geplante Verlängerung einer Hamburger U-Bahn um zwei Stationen nach Osten angewendet. Mittels eines 100-Meter-Rasters haben wir untersucht, wo genau die neue U-Bahn entlanglaufen würde und welche Grundstücke davon betroffen wären. Nach Anwendung unseres Erreichbarkeitsindexes hat sich ergeben, dass diejenigen Eigentümer, deren Immobilie unmittelbar in der Nähe der neuen U-Bahn Stationen liegen, den höchsten Beitrag zahlen würden. Im Vergleich mit bereits bestehenden Modellen zur Ermittlung der Qualität von ÖPNV-Anbindungen hat sich gezeigt, dass unsere kleinteilige Berechnung weitaus adäquater und gerechter ist. Andere Modelle sind bislang zu grob. Wenn ein Eigentümer, der drei Straßen weiter wohnt, genauso viel zahlen soll wie jemand, dessen Immobilie direkt an der neuen Haltestelle liegt, führte das zu Ungerechtigkeiten und hätte rechtlich sicherlich keinen Bestand.


Sehr wahrscheinlich trifft Ihr Modell bei den Kommunen auf Zustimmung. Die Immobilienbesitzer, die Sie mit den Beiträgen belasten, sind wohl weniger erfreut.

Das ist die größte Hürde des Modells. Für mich ist es aber eine Gerechtigkeitsfrage, dass diejenigen, die von dem Angebot profitieren, an den Kosten beteiligt werden. Im Übrigen entsteht diese Diskussion immer, wenn es darum geht, Menschen finanziell zu belasten. Im Ausland sind vergleichbare Finanzierungsmodelle bereits gang und gäbe, wie die sogenannten Dienstgeberabgabe in Wien oder der Versement transport in Frankreich belegen.

Halten Sie Ihren Vorschlag vor dem Hintergrund der coronabedingten Fahrgastrückgänge für realistisch?

Spätestens nach der Corona-Pandemie werden wir merken, dass unsere Steuerquellen endlich sind. Außerdem besteht mittlerweile ein allgemeiner Konsens, dass die Menschen für eine Verkehrswende vom Auto auf den ÖPNV umsteigen müssen. Tun sie das, zahlen sie langfristig aber weniger Mineralölsteuer. Die Steuermittel, die bislang in den ÖPNV fließen, stammen allerdings zu einem großen Teil auch aus der Mineralölsteuer. Wer also eigentlich den ÖPNV fördern möchte, kann nicht nur auf Steuern setzen, die auch aus dem Motorisierten Individualverkehr (MIV) kommen. Das ist aus meiner Sicht widersinnig.