Seit vier Jahren ist Ekrem Erdem Zugbegleiter bei der Hessischen Landesbahn. Jeder Tag ist anders, und manchmal auch aufregend. Aber was er am 5. Juli 2024 erlebt, lässt ihn nicht mehr los. Der 46-Jährige aus Gießen fühlt sich wie der unfreiwillige Actionheld in einem Krimi. Nur dass die Geschichte einer verängstigten Reisenden und ihres Verfolgers ganz real passiert, und er ist mittendrin. Drei Tage braucht er, um danach wieder runterzukommen. Für die bedrohte Reisende – und für unsere Jury – ist er ein echter Schienenheld!
Herr Erdem, Ihre Geschichte ist nichts für schwache Nerven. Aber fangen wir ganz von vorn an. War das erst mal ein ganz normaler Arbeitstag für Sie?
Ekrem Erdem: Es war schon Mittag, ich hatte die erste Fahrt bereits hinter mir und stand in Gießen am Bahnsteig, um zu meinem nächsten Einsatzort in Frankfurt am Main zu kommen. Dann kam aber alles ganz anders.
Was ist denn am Bahnsteig passiert?
Es war unheimlich voll und dadurch unübersichtlich. Da packte mich eine junge Frau plötzlich an der Schulter und sagte: „Sie müssen mir helfen. Da ist ein junger Mann, der verfolgt mich.“ Die Frau konnte kaum noch atmen. Es war ganz eindeutig, dass sie panische Angst hatte.
Das ist ja schrecklich. War der Verfolger denn auch auf dem vollen Bahnsteig?
Er stand nur wenige Meter entfernt, ich habe ihn nach ihrer Beschreibung sofort erkannt. Etwas stimmte nicht mit seinen Augen. Er wirkte, als hätte er Drogen genommen. Ich habe versucht, die Frau zu beruhigen und gleichzeitig den Mann nicht aus den Augen zu verlieren.
In so einem Moment wünscht man sich wahrscheinlich den Pausenknopf drücken zu können, um erst mal nachzudenken…
Das wäre toll, wenn das ginge. Aber ich musste schnell und besonnen reagieren. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass Panik auf dem vollen Bahnsteig ausbricht. Ich habe die Reisende an meine Seite genommen und bin mit ihr direkt in die 1. Klasse gegangen, um sie besser von ihrem Verfolger abschirmen zu können.
War denn klar, dass der Mann auch in den Zug einsteigen würde?
Ja, das wollte er. Ich habe ihn gebeten, nicht einzusteigen. Aber das hat er verweigert. Und wie schon gesagt, er wirkte nicht zurechnungsfähig. Ich habe also schnell meine Kollegen im Zug eingeweiht und sie gebeten, weibliche Fahrgäste in seiner Nähe ebenfalls in die 1. Klasse zu bringen. Der Mann fing an zu schreien und zu behaupten, die Reisende – inzwischen wusste ich, dass sie Ellie heißt – sei seine Frau. In dem Moment ist Ellie völlig zusammengebrochen und fing an zu weinen. Da fuhr der Zug auch schon los, und ich dachte: Ich muss jetzt versuchen dieses Chaos zu ordnen und alles unternehmen, damit niemandem etwas passiert.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe eine ältere Dame mit einem Labrador gebeten, sich zu Ellie zu setzen. Der Hund hat gespürt, was er zu tun hatte und hat ihr sofort den Kopf auf den Schoß gelegt. Ich war die ganze Zeit bei der Reisenden, habe aber auch den Verfolger nicht aus den Augen gelassen. Wir haben Durchsagen gemacht, ob Polizisten oder Sanitäter an Bord sind, aber leider hat sich in dem Durcheinander niemand gemeldet. Also dachte ich: Wir müssen irgendwie durchkommen, bestenfalls bis Frankfurt Hauptbahnhof, weil dort die Bundespolizei übernehmen könnte.
Wie hat sich der Mann im Zug verhalten?
Ich habe ihn in Friedberg nochmals gebeten auszusteigen. Er hat sich wieder geweigert. Und ohne Polizei konnte ich nicht viel ausrichten. Ich habe also die Bundes-
polizei angerufen und darum gebeten, dass sie direkt am Frankfurter Hauptbahnhof auf uns wartet. Dann habe ich mich wieder um Ellie gekümmert, die immer noch ganz außer sich war. Und ganz plötzlich bremst der Zug ab.
Wieso das denn?
Jemand hatte die Notbremse gezogen. Und Ellie rief sofort in Panik: „Das war ER!“ Und auch wenn ich versucht habe sie zu beruhigen – es war tatsächlich ihr Verfolger.
Das ist ja wirklich eine außergewöhnliche Situation.
Im Grunde war es ein richtiger Albtraum: Der Zug stand kurz vor Frankfurt Hauptbahnhof, also dort, wo gefühlt hundert Gleise parallel laufen, und dieser Typ hatte auch noch die Notentriegelung der Türen betätigt, sodass die Türen in beide Richtungen zu den Gleisen offenstanden, auf freier Strecke. Dann fing meine Arbeit erst richtig an. Das war der gefährlichste Augenblick überhaupt.
Wie haben Sie reagiert?
Zum Glück waren ja noch die anderen Kollegen da. Ich habe sie gebeten eine Durchsage zu machen, dass alle auf ihren Sitzen bleiben sollen. Meine Kollegen und einige Fahrgäste haben die Türen verbarrikadiert. Und dann habe ich den Verfolger plötzlich gesehen. Er hatte es in dem Durcheinander doch tatsächlich geschafft, in die 1. Klasse zu gelangen. Er war nur noch drei Meter von mir und Ellie entfernt.
Das wird ja immer schlimmer…
Ich bin direkt auf ihn zugegangen, er war ja zumindest nicht sichtbar bewaffnet. Er hatte nur einen Rucksack auf dem Rücken, von dem ich nicht wusste, was da drin war. Ich habe ihn dazu gebracht, sich hinzusetzen. Auch dagegen hat er sich gewehrt. Und dann kam doch tatsächlich der Labrador, der ja bei Ellie saß, rüber und hat sich wie so ein Schutzschild zwischen mich und den Verfolger gesetzt. Ich dachte mir: Dieser Hund ist für mich heute alles! Und dann ist der Zug endlich in den Frankfurter Hauptbahnhof eingefahren.
Wo hoffentlich direkt die Bundespolizei gewartet hat?
Ja, das hatte mir der Fahrdienstleiter kurz vorher nochmal versichert, und so kam es auch. Kaum hatten wir gehalten, kam die Bundespolizei rein und hat den Mann, der sich natürlich gewehrt hat, abgeführt. Ich war in der Zeit bei Ellie und habe mit ihr gewartet, bis ihr Verfolger außer Sichtweite war. Erst dann sind wir zusammen ausgestiegen, die Dame mit dem Labrador hat uns begleitet, und ich habe sie ganz langsam zu ihrem Anschlusszug gebracht. Ich hatte zwischenzeitlich noch in der Betriebszentrale darum gebeten, dass der Anschlusszug fünf Minuten später abfährt, um ihr etwas Zeit zu geben.
Es ist schier unglaublich, was sie alles gleichzeitig gemanagt haben…
Mir ist das erst hinterher bewusst geworden. Nachdem ich Ellie sicher an das Zugteam des ICE übergeben hatte, damit sie gut nach Dresden weiterreisen konnte, habe ich mich erst mal hingesetzt und das alles sacken lassen. Ich hatte nach dieser Aktion den Rest des Tages frei bekommen. Und dann saß ich da und habe noch einige Tage gebraucht, um wieder komplett runterzukommen. Sowas passiert ja zum Glück nicht regelmäßig – das war tatsächlich der schlimmste Arbeitstag, den ich je hatte.
Nur drei Tage später hat Ellie, also Elide Marous, Sie bei uns als Eisenbahner mit Herz nominiert. Und unsere Jury haben Sie auch sofort überzeugt. Wie fühlen Sie sich mit Ihrem Preis?
Also ich habe ehrlich gesagt nie damit gerechnet, dass es solche Wellen schlagen würde. Aber ich fühle mich positiv, sehr positiv bestätigt in meiner Arbeit.
Eigentlich kann ich es gar nicht in Worte fassen, so viel bedeutet es für mich. Übrigens auch deshalb, weil ich als jemand mit Migrationshintergrund in Zeiten wie diesen, wo sich Anschläge häufen und sehr aufgeregt über Asylpolitik diskutiert wird, zeigen kann, dass auch viele gute Menschen hier leben: Ich stehe immerhin bald auf einer Bühne und bekomme praktisch die höchste Auszeichnung auf der Schiene. Das macht mich wirklich glücklich und stolz.
Vielen Dank für Ihren Einsatz und herzlichen Glückwunsch!