Ein dringendes Bedürfnis

Zugtoiletten sind vielleicht nicht gerade die Lieblingsörtchen von Bahnreisenden – aber doch von unschätzbarem Wert, wenn die Blase unterwegs quengelig wird. Dumm nur, wenn man in einer Straßenbahn sitzt und kein WC an Bord ist … und diese Straßenbahn dann noch mit offenem Ende auf der Strecke feststeckt.

Es hätte so ein klassischer Murphy’s-Law-Tag werden können, als Jochen Dietz die Straßenbahn von Wörth nach Karlsruhe fährt. Für einen älteren Herrn, der dringend zur Toilette muss, droht die Fahrt zur Tortur zu werden. Doch unser Eisenbahner mit Herz zeigt vollen Einsatz – und am Ende verlassen Fahrzeugführer und Fahrgast fröhlich – und in jeder Hinsicht erleichtert – den Zug.

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Herr Dietz, wahrscheinlich kennt jeder Mensch das Gefühl, dringend zur Toilette zu müssen – aber keine in der Nähe zu haben. Extrem unangenehm, und ab einem gewissen Punkt ja auch kaum noch zu kontrollieren. Was genau ist Ihnen und dem Fahrgast da passiert?

Ich war mit der Karlsruher S-Bahn, die auch als Straßenbahn verkehrt, zwischen Wörth und Karlsruhe unterwegs. Kurz hinterm Bahnhof Wörth, wo der Straßenbahn- in den S-Bahnbereich übergeht, gab es eine Stellwerksstörung. Dort hatte sich eine Weiche verklemmt. Wir standen also eine halbe Stunde auf der Strecke herum. Nach einer Dreiviertelstunde tat sich immer noch nichts. Wir warteten auf den Entstörungsdienst und steckten in der Zeit fest.

Und es war völlig unklar, wie lange das noch dauert?

Ja, genau. Nach geschlagenen zwei Stunden kam dann ein älterer Fahrgast zu mir und sagte, er müsse dringend zur Toilette. Aber in der Stadtbahn gibt es keine Toilette, denn eigentlich ist die ja immer nur auf kurzen Strecken unterwegs.

Oh je. Was konnten Sie denn tun außer dem älteren Fahrgast zu raten, noch ein wenig durchzuhalten?

Das war natürlich erst mal blöd. Was macht man da, wenn man auf der freien Strecke vorm nächsten Bahnhof feststeckt? Ich hatte dann die Idee, den Fahrdienst in Wörth anzurufen. In den alten Bahnhöfen gibt es noch Weichenwärter – und die müssen ja auch zur Toilette. Also habe ich nachgefragt, ob ich mit dem Fahrgast zum Wärterhäuschen kommen und die Toilette benutzen darf.

Steckbrief

Jochen Dietz

Unternehmen: Albtal-Vekehrs-Gesellschaft mbH
Bundesland: Baden-Württemberg
Einsatzgebiet: Raum Karlsruhe

Auf so eine Idee muss man ja auch erst mal kommen! Aber wie sind Sie dann vom Gleis aus da hingekommen, ohne sich und den Fahrgast in Gefahr zu bringen?

Gut war ja schonmal, dass uns wegen der Stellwerksstörung keine anderen Züge entgegenkommen konnten. Sicherheitshalber habe ich uns beiden eine Warnweste umgelegt, denn wir mussten ja zunächst mal am Gleis entlanglaufen. Dann kam die nächste Hürde. Wir mussten über eine Leitplanke klettern, um auf die Straße zu kommen. Und der ältere Fahrgast war ja nicht mehr so beweglich. Mit über 80 könnte ich auch nicht mal eben über eine Leitplanke hüpfen. Ich habe dem Herrn dann erst mal geholfen sicher über die Gleise und dann über die Leitplanke auf die Straße zu kommen. Auf der Straße haben wir vorsichtig einige Hundert Meter zum Wärterhäuschen zurückgelegt, und der Fahrgast konnte endlich zur Toilette gehen.

Was für ein Abenteuer…und dann wieder der ganze Weg zurück zum Zug!

Der Rückweg war natürlich etwas entspannter für den Fahrgast. Nach diesem Abenteuer hatte er erst mal Durst, nur leider nichts zu trinken dabei. Zum Glück habe ich immer zwei Flaschen Wasser bei mir. Also habe ich ihm eine abgegeben. Der Fahrgast war daraufhin total begeistert. Seine Frau und er haben sich so über meine Hilfe gefreut und waren immer noch wirklich lustig drauf, als wir nach zweieinhalb Stunden Stillstand endlich weiterfahren konnten. Am Ende sind die beiden richtig glücklich in Karlsruhe angekommen.

Eisenbahner mit Herz 2023: Jochen Dietz

Kein Wunder, Sie haben ja auch wirklich alles gegeben.

Ich mache den Job einfach gerne. Wir haben in den Straßenbahnen immer noch Kontakt zu den Kunden, und sie können uns über die Schulter schauen. Die Kinder winken uns von draußen zu. Das macht wirklich Spaß. Wir sind bei der AVG sowohl Straßenbahn als auch Eisenbahn. Und das beides zusammen macht den Beruf so wahnsinnig interessant.

Was bedeutet es Ihnen, dass Sie jetzt Gold-Sieger des Eisenbahner-mit-Herz-Wettbewerbs sind?

Allein die Nominierung war für mich schon eine Auszeichnung. Dass ich jetzt auch noch diesen Wettbewerb gewonnen habe, das ist kaum in Worte zu fassen. Es ist einfach super! Wir haben im Alltag schon auch viel Stress und derzeit viele Störungen. Wenn wir es trotzdem schaffen, dass die Kundinnen und Kunden nach ihrer Fahrt zufrieden sind und sie uns eine positive Rückmeldung geben, dann ist das für uns ein Sechser im Lotto. Dann weiß ich, ich habe an dem Tag alles richtig gemacht und kann zufrieden Feierabend machen. Deshalb ist diese Auszeichnung wirklich das Highlight in meiner bisherigen Karriere.

Und sicher nicht das letzte, lieber Herr Dietz. Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich zum Eisenbahner mit Herz. Vielen Dank für Ihr Engagement!