Silber: Oliver Vitze

Eisenbahner mit Herz – Silbermedaille

Der Herr der Ringe

Nürnberg Hauptbahnhof: Alexandra Gutsche-Trimis bringt ihre Freundin zum Bahnhof. Beim Winken rutscht ihr der Ehering vom Finger und landet unter dem Zug am Nebengleis.

Ein Anruf beim Ehemann bringt sie nicht weiter. In ihrer Not klopft die Frau bei den Lokführern des wartenden Regionalexpress. Der „netteste Lokführer der Welt“ steigt aus und kriecht für sie unter den Zug. Er wendet alle Steine, bis der Ring gefunden ist. Als die Kundin ihn voller Dankbarkeit fragt, was sie für ihn tun kann, hat er nur einen Wunsch: Ein Stück Seife.

Das Porträt

Oli kommt nach Hause

Kurz bevor er die Tat vollbringt, die ihn zum Eisenbahner mit Herz macht, sitzt Oliver Vitze in seiner Lokomotive und isst eine Currywurst. Dieser Umstand passt ins Bild: Die entscheidenden Jahre seines Lebens hat der 41-Jährige nämlich in Berlin und Umgebung verbracht.

Geboren am Bahnhof von Neustrelitz erklettert er schon als kleiner Junge jede Lok, die in seiner Reichweite steht. Seine Vorliebe für die preußische T 18 oder die 78er Baureihe stammt aus frühkindlicher Prägung. Ein Bahnarzt am Berliner Ostbahnhof erklärt ihn im Wendejahr 1989 für tauglich, und Oliver Vitze steigt von nun an dienstlich in den Führerstand. Er arbeitet für den Fernverkehr im Ostbahnhof, dann in Berlin Wuhlheide, wechselt später nach Potsdam in den Rangierdienst. Als er hört, dass die Deutsche Bahn im baden-württembergischen Crailsheim Lokführer sucht, denkt Oliver Vitze, er könne doch auch „in den Westen gehen“. Er bewirbt sich und wird prompt genommen.

Mit dem Ländle hat der Exilberliner inzwischen seinen Frieden gemacht. Schließlich kommt er viel herum: etwa nach Stuttgart oder ins bayerische Nürnberg, wo er zum Fototermin für den „Eisenbahner mit Herz“ auch die attraktive junge Frau wiedertrifft, deren verschwundenen Ehering er in einer dunklen Novembernacht aus dem Schotter geborgen hat. Alexandra Gutsche-Trimis ist von ihrem „nettesten Lokführer“ auch bei Tageslicht sichtlich angetan und verspricht, zur Siegesfeier am 13. April nach Berlin zu reisen. Oliver Vitze wird sich ebenfalls auf den Weg machen – er kommt schließlich nach Hause.

Das Interview

„Da bin ich ganz der Romantiker“

Oliver Vitze über Eheringe als Symbol der Liebe, die Einsamkeit auf der Lok und die Trauer nach einem Personenschaden.

Herr Vitze, an einem dunklen Vorweihnachtsabend haben Sie im Dienst eine Herzensangelegenheit glücklich gelöst. Was ist geschehen?
Ich war mit meinem Azubi auf der Lokomotive, und wir haben eine Currywurst gegessen. Ich war gerade fertig, da klopft es an der Tür. Eine junge Frau steht draußen. Sie war ziemlich aufgelöst und sagte, sie hätte ihren Ehering verloren. Er sei unter den Zug gerollt. Was man denn jetzt tun könnte. Ich sagte: „Wir suchen ihn. Die Option besteht.“ Dann habe ich mir meine Warnweste gegriffen und die Lampe, und dann sind wir auf den Bahnsteig rausgegangen.

Wie lange haben Sie gesucht?
Das war nicht ganz einfach. Sie hatte sich zwar die Stelle gemerkt, wo der Ring ins Gleis gerollt ist, aber wir haben mit ihrem Handy und meiner Lampe unter den Zug geleuchtet und es war nichts zu sehen. Also bin ich unter den Zug gekrochen, habe alles abgeleuchtet. Außer Grünzeug,, Müll, Kronkorken und Bierdeckeln war nichts zu entdecken. Als dann klar war, dass es eine längere Operation werden würde, habe ich mich auf die Schienen gesetzt und Stein für Stein umgedreht. Irgendwann konnte ich ihr zum Glück zurufen: „Ich hab’ ihn.“ Als ich wieder auftauchte, hat sie sich unglaublich gefreut. Obwohl ich aussah wie ein Müllmann.

So ein Ehering ist schon ein starkes Symbol.
Für mich auf jeden Fall. Ich bin bald 19 Jahre glücklich verheiratet, und da weiß ich, was der Ring bedeutet. Als ich geheiratet habe, habe ich mir gesagt: Dieser Ring bleibt an meinem Finger, bis ich unter der Erde liege. Da bin ich ganz der Romantiker.

Haben Sie Ihrer Frau von dem Erlebnis unter dem Zug erzählt?
Ja, noch am selben Abend. Ich kam nach Hause und sagte: „Ich habe heute einer jungen Frau die Ehe gerettet.“ Da hatte ich auch gleich eine Erklärung, warum ich so schmutzig war. Meine Frau hat sich über die Geschichte so gefreut, dass wir ein Glas Sekt getrunken haben.

Wenn Sie so hilfsbereit sind, klopft es sicher öfter mal an Ihrer Lok?
Ja, ich helfe gern. Meistens geht es natürlich nicht um einen Ehering, sondern um Menschen, die auf dem Bahnsteig keinen Ansprechpartner finden. Die kommen dann zu uns nach vorne und klopfen. Wir sind ja immer da. Meistens wollen sie dann nur irgendeinen Anschluss wissen oder brauchen Hilfe beim Tragen eines Kinderwagens. 

Lokführer gelten als die einsamen Wölfe im Eisenbahnverkehr. Fühlen Sie sich einsam?
In der Regel sind wir schon Einzelkämpfer. Im Güterverkehr sogar noch viel mehr, da sind wir ganz allein. Ich habe in meiner Zeit in Berlin lange Güterverkehr gemacht. Hier in Crailsheim arbeite ich im Personenverkehr. Das gefällt mir besser. Ich bin ein kommunikativer Typ.

Haben Sie vor allem nette Erlebnisse oder gibt es auch schwierige Seiten in Ihrem Beruf?
Ja, die gibt es. Vor einem Jahr hatte ich einen „Personenunfall“. Meine Lok hatte 100 Sachen, und da sehe ich vor mir etwas auf dem Gleis. Es war zu spät, um zu bremsen. Diesen Augenblick werde ich nicht vergessen: wie ich merke, dass ich keine Chance habe zu bremsen.

Hat Sie das verfolgt?
Ja, wenn mal schlechtes Wetter ist und das rote Signal immer näher kommt, dann schießt es mir wieder in den Kopf. Aber Alpträume oder Schweißausbrüche erlebe ich nicht mehr. Eine Bahnpsychologin in Stuttgart hat mit mir darüber gesprochen, ich kann jetzt damit umgehen.

Ihren Beruf wollten Sie deshalb nicht aufgeben?
Nein. Es war immer schon klar, dass ich Lokführer werden würde. Etwas anderes hat es für mich nie gegeben.

Wie kann das sein?
Das Haus in Neustrelitz, in dem ich aufgewachsen bin, lag direkt am Bahnhof. Ich konnte kaum laufen, da saß ich schon auf der Dampflok. Damals haben mich die Aufsichtsbeamten noch rausgeholt und wieder nach Hause verfrachtet. Mir war aber klar: Da will ich hin.

Sie sind also ein Eisenbahner mit Herz?
Ganz klar: Es ist einfach schön, auf Schienen zu fahren. Aber mein Herz gehört den Dampf- und Dieselloks. Da sieht und hört man die Kraft.

Die Einsendung der Kundin

Ring gegen Seife

Am 25.11.2011 habe ich meine Freundin zum Bahnsteig 19 im Nürnberger Hauptbahnhof begleitet. Wir waren gemeinsam bei der Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes.

Sie stieg in den RE um 19:40 Uhr und fuhr zurück nach Regenstauf. Ich habe ihr nachgewunken und plötzlich löste sich mein Ehering und hüpfte von meinem Finger über den Bahnsteig und rollte unter den gegenüberstehenden Zug. Diese RE 19928 hatte noch fast 45 Minuten Zeit bis zur Abfahrt nach Stuttgart um 20:35 Uhr. Ich habe mit dem Handy unter den Zug geleuchtet, aber erfolglos. Dann habe ich meinen Mann angerufen und gebeten zu kommen und suchen zu helfen, wenn der Zug abgefahren ist.

Da weit und breit kein Bahnpersonal zu sehen war und ich die Sache besprechen wollte, habe ich beim Lokführer an die Türe geklopft. Ein junger Mann öffnete das Fenster und fragte mich, was los sein. Der 2. Mann in der Lok kam aus der Türe, und ich sollte ihm die Stelle zeigen, wo der Ring auf die Schienen gefallen ist. Er kletterte mit Taschenlampe unter den Zug und suchte. Leider nichts zu finden.

Dann hob er Stein für Stein zur Seite und suchte intensiv. Nach einiger Zeit fand der netteste Lokführer der Welt meinen Ehering zwischen Müll, Dreck und Kronkorken. Ich war so glücklich und konnte mich vor Aufregung gar nicht richtig bedanken. Sein einziger Wunsch war – „ein Stück Seife“ zum Händewaschen.

Alexandra Gutsche-Trimis,
Nürnberg, Bayern

Die Würdigung der Jury

Ritter in der Not

Wer im Reisenden den Menschen sieht, der klettert für Fahrgäste auch unter den Zug und sucht den verlorenen Ehering.

Uns hat beeindruckt, wie der Lokführer sich nicht zu schade war, im Schotter und Schmutz nach dem Ring zu suchen. Soviel hilfsbereite Ritterlichkeit ist selten.