Interview: Wie die Straßenbahn immer Vorfahrt hat und trotzdem niemand warten muss

 

Immer länger steht man in Deutschland auf der Stelle. Ganze 73 Stunden steckten Autofahrer in Stuttgart laut einer Studie im Jahr 2015 im Stau. Ein trauriger Rekord und im Vergleich zum Vorjahr stieg das Stauaufkommen in der Landeshauptstadt sogar noch um 14 Prozent. Gut, wenn man das eigene Auto in der Garage lässt, denn meist kommt man mit Bus und Bahn wesentlich schneller an sein Ziel. Und bald könnte der ÖPNV sogar noch schneller unterwegs sein, das zeigt das Forschungsprojekt VERONIKA der Uni Kassel. Im Interview mit der Allianz pro Schiene berichtet Projektleiter Prof. Dr. Robert Hoyer, wie man den Stadtverkehr zum Fließen bringt.

Allianz pro Schiene: Herr Hoyer, hat Kassel ein Stauproblem?

Robert Hoyer: Es gibt sicherlich Städte, in denen die Autokolonnen noch länger sind, aber zur Rush Hour steht man im Auto auch in Kassel auf der Stelle. Ich tue mir das nicht an und fahre Bahn, das geht wesentlich schneller.

 

Aber offenbar geht es Ihnen nicht schnell genug.

Kassel ist mit seinem Bus- und Straßenbahnnetz sehr gut aufgestellt. Aber wenn die Straßen voll sind, dann betrifft das alle Verkehrsteilnehmer – auch den ÖPNV. Mit unserem Forschungsprojekt VERONIKA arbeiten wir daran, den Verkehr besser aufeinander abzustimmen und Stillstand vorzubeugen.

 

Wie funktioniert das neue Verkehrsmanagement?

VERONIKA steht für „Vernetztes Fahren des öffentlichen Nahverkehrs in Kassel“. Wir verbessern die Kommunikation zwischen den Fahrzeugen und den Signalanlagen. Im Wesentlichen arbeiten wir mit unseren Projektpartnern an einem System, das Ampeln sekundengenau auf Grün schaltet. Bisher ist das nur mit festen Zeitfenstern möglich, in denen Verkehrsteilnehmer, die Rot haben, womöglich unnötig warten müssen. Ein Beispiel: Auf dem Weg zu einer Ampelkreuzung passiert eine Straßenbahn einen Meldedetektor, der den Wechsel der Ampelphase initiiert. Nun kann auf der verbleibenden Strecke natürlich noch einiges passieren und schon ist das System aus dem Takt. Die Bahn hat grün, aber sie kommt gar nicht rechtzeitig und sieht womöglich beim Erreichen der Kreuzung wieder Rot. Mit der neuen Technik weiß eine Ampel jederzeit, wo sich eine Straßenbahn in der Zufahrt befindet und kann passgenaue Grünphasen einleiten. Die Bahnen fahren dadurch noch pünktlicher.

Eine Straßenbahn in Kassel am Bahnhof Wilhelmshöhe: Dank VERONIKA werden die Ampelphasen hier genauer
Eine Straßenbahn am Bahnhof Wilhelmshöhe: Passgenaue Grünphasen sorgen für kürzere Wartezeiten

Wie groß ist der technische Aufwand dahinter?

Wir simulieren das Verkehrsmanagement zunächst im Labor, dann werden Fahrzeuge und Signalanlagen entsprechend mit neuer Telematik ausgerüstet. Der Schritt ist ohnehin überfällig, denn das alte System läuft noch über Analogfunk. Diese Technik stirbt aus, es gibt immer mehr Schwierigkeiten bei der Ersatzteilbeschaffung. Per Datenkabel kommunizieren die Signalanlagen dann mit dem städtischen Verkehrsmanagement. So können die Ampelphasen an verschiedenen Kreuzungen optimal aufeinander abgestimmt werden. Mit dem neuen WLAN-Standard IEEE 802.11p, der bisher nur von der Autoindustrie verwendet wird, nutzen wir die Gunst der Stunde und können im nächsten Schritt auch den Individualverkehr in das vernetzte Verkehrsmanagement aufnehmen. Rettungswagen zum Beispiel. Das System räumt den Einsatzkräften mit Blaulicht die Straße frei – ein riesiger Gewinn an Sicherheit und Schnelligkeit. Das testen wir in Kassel zusammen mit dem Arbeiter-Samariter-Bund.

Ihr Projekt konnte auch das Bundesverkehrsministerium überzeugen. Sie erhalten eine Förderung über 2,3 Millionen Euro.

Darüber haben wir uns sehr gefreut. Dank Zuschuss kann das Straßenverkehrs- und Tiefbauamt der Stadt Kassel 15 Ampeln mit der neuen Technik ausstatten. In Kooperation mit der Kasseler Verkehrs-Gesellschaft und einem Regionalbusunternehmen aus Bad Wildungen können wir mit insgesamt 10 Fahrzeugen in den Testbetrieb gehen. Das ist eine tolle Möglichkeit für uns, aus dem Labor heraus zu kommen und etwas für unsere Stadt zu tun. Und die Ergebnisse kommen allen zugute, denn ein solches System gibt es in Deutschland bisher nicht. Die Stimmung bei meinen Doktoranden und unseren studentischen Hilfskräften ist dementsprechend hervorragend. Und auch unsere Partner bei der Stadt, bei der Kasseler Verkehrs-Gesellschaft und beim Nordhessischen Verkehrsverbund stehen voll hinter VERONIKA. Alle Verantwortlich machen mehr, als sie im betrieblichen Alltag eigentlich müssten. Dafür bin ich sehr dankbar.

Was ist die größte Herausforderung bei diesem Projekt?

Sicherlich der Test im laufenden Verkehr. Ab Mitte 2018 starten wir auf zwei Strecken: Kassel-Auestadion bis Ständeplatz und Kassel-Waldau bis Platz der Deutschen Einheit. Im Labor bereiten wir uns umfassend auf den Feldversuch vor und berechnen die notwendigen Algorithmen vorab anhand eines Verkehrsmodells. Im besten Fall realisieren die Kasseler erst, dass sich da im Verkehr was tut, wenn sie abends plötzlich ein wenig früher zuhause sind.

Vielen Dank für das Gespräch

Das Interview führte Christopher Harms