Deutschlandtakt nicht in Gefahr bringen

Gemeinsamer Brief von Allianz pro Schiene und VDV zur SPD-internen Diskussion um Neubaustrecken

Die Bahnverbände Allianz pro Schiene und Verband Deutscher Verkehrsunternehmen haben am 30. Juni 2023 folgenden Brief zur Diskussion über die Neubaustrecken Hannover – Bielefeld und Hamburg-Hannover versandt. Erhalten haben dieses Schreiben bei der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag: Geschäftsführender Vorstand, Arbeitsgruppe Verkehr, Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, Landesgruppe Niedersachsen/Bremen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die SPD-Landesgruppen NRW und Niedersachsen/Bremen haben am 15. Juni 2023 einen gemeinsamen Beschluss zum Thema Schienenausbau gefasst.

Zu unserem großen Erstaunen wendet sich dieser Beschluss explizit gegen eine Realisierung zweier Schieneninfrastruktur-Projekte, die Bestandteil der Planungen für den künftigen Deutschlandtakt sind.

Diese Positionierung ist aus unserer Sicht nicht geeignet, den dringend notwendigen kapazitativen Ausbau des Schienennetzes voranzubringen und die im aktuellen Koalitionsvertrag formulierten Zielmarken für deutlich mehr Schienenverkehr in Deutschland zu erreichen. Vielmehr müssen wir feststellen, dass die in dem Beschluss angeführten Punkte zum Infrastrukturausbau Schiene weit hinter dem Diskussionsstand zurückbleiben, der bereits im Zukunftsbündnis Schiene zwischen Politik, Bahnbranche, Kundenvertretern und Gewerkschaften erreicht wurde.

Schon die Grundthese, dass der bloße Ausbau bereits bestehender Strecken ausreichend sei, (...) können wir nicht nachvollziehen.

Dazu im Einzelnen:

  • Schon die Grundthese, dass der bloße Ausbau bereits bestehender Strecken ausreichend sei, um die Kapazität und Leistungsfähigkeit des Schienennetzes in ausreichender Weise zu erhöhen, können wir nicht nachvollziehen. Zur Illustration des Bedarfs für zusätzliche Schieneninfrastruktur mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass in den knapp drei Jahrzehnten seit der Bahnreform sowohl der Schienengüterverkehr als auch der Schienenpersonenverkehr in Deutschland massiv gewachsen sind, während die Schieneninfrastruktur – als einzige Verkehrsinfrastruktur in Deutschland überhaupt – im gleichen Zeitraum deutlich geschrumpft ist. Die daraus resultierende Überlastung wichtiger Schienenstrecken ist auch eine wesentliche Ursache für die aktuell unbefriedigende Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit des Schienenverkehrs.
     
     

 

  • Ebenfalls nicht teilen können wir die These, der Ausbau der bestehenden Schienenstrecken sei bei den in Rede stehenden Projekten schneller, kostengünstiger und landschaftsschonender zu realisieren als Neubauabschnitte. Die bisherigen Erfahrungen bei Bestandsausbauten und die hier bei einem Bestandsausbau absehbar erforderlichen umfangreichen Eingriffe in bestehende Siedlungsstrukturen lassen eher das Gegenteil erwarten.
  • Zur Frage des sinnvollen Zusammenspiels zwischen Neubaumaßnahmen, Ausbaumaßnahmen und weiteren kleineren, kapazitätssteigernden Maßnahmen möchten wir ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Planungsansatz des Deutschlandtaktes hier einen substanziellen Fortschritt bedeutet gegenüber dem traditionellen Vorgehen, das sich im Wesentlichen auf punktuelle Infrastrukturverbesserungen durch Einzelprojekte konzentriert hat. Mit dem Planungsansatz des Deutschlandtaktes liegt nun erstmals eine deutschlandweite Netzkonzeption vor, die auf Basis der künftigen Verkehrsangebote im Personen- und Güterverkehr die notwendige flächendeckende Weiterentwicklung des Schienennetzes beschreibt.

    Dabei gab es in dem gut zweijährigen Arbeitsprozess zur Entwicklung des Deutschlandtaktes gerade keine Vorfestlegung auf bestimmte Instrumente wie etwa Neubaustrecken oder Ausbauprojekte. Vielmehr ergeben sich aus dem Deutschlandtakt konkrete Anforderungen an die kapazitative Leistungsfähigkeit und die zu erreichenden Reisezeiten in den einzelnen Netzteilen bzw. Streckenabschnitten. Auf Basis dieser Anforderungen konnte dann das jeweils notwendige Instrument (Neubaumaßnahme, Ausbaumaßnahme, sonstige kleinere, kapazitätssteigernde Maßnahme oder auch Streckenreaktivierung) identifiziert werden.

    ... stellt damit zwangsläufig den Deutschlandtakt als Ganzes in Frage.

    Das Herausbrechen einzelner Maßnahmen aus dem Gesamtkonzept des Deutschlandtaktes, wie es in dem Beschlusspapier befürwortet wird, stellt damit zwangsläufig den Deutschlandtakt als Ganzes in Frage. Dies gilt umso mehr, als die beiden in dem Beschlusspapier genannten Projekte Hannover – Bielefeld und Hamburg – Hannover Hauptachsen des Personen- und Güterverkehrs in Deutschland sind, die die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bereits erreicht haben.

  • Die Folgen wären somit nicht nur für die Menschen in den entsprechenden Regionen erheblich, da eine Angebotsausweitung und Taktverdichtung im Nahverkehr mangels ausreichender Kapazitäten nicht mehr möglich wären. Auch die Entwicklung des Personenfernverkehrs und der Schienengüterverkehrs wäre massiv betroffen. Insbesondere der stark wachsende Schienengüterverkehr benötigt zusätzliche Kapazitäten, nicht zuletzt auch mit Blick auf die klimapolitisch gebotenen Verlagerungsziele des Bundes.

Insgesamt erfüllt uns mit Sorge, dass der Beschluss der beiden Landesgruppen die Ergebnisse des umfassenden und fachlich wegweisenden Beteiligungsprozesses, in dem sich Bund, Länder, Bahnunternehmen, Branchenverbände und Organisationen der Zivilgesellschaft über den Zielfahrplan des Deutschlandtaktes verständigt haben, grundsätzlich in Frage stellt. Dies gefährdet das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Politik und trägt nicht dazu bei, Beteiligungsprozesse zu stärken.

Wir sind davon überzeugt, dass der Deutschlandtakt der Kompass für den zielgerichteten Ausbau des Schienennetzes in Deutschland ist, der Kapazitäten für mehr und bessere Angebote im Schienenpersonen- und Schienengüterverkehr schafft. Sehr gerne stehen wir für den weiteren Austausch hierzu zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Dirk Flege
Geschäftsführer
Allianz pro Schiene

Dr. Martin Henke
Geschäftsführer Eisenbahn
Verband Deutscher Verkehrsunternehmen